< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 1 Brief 109:    Caroline an Humboldt     [Erfurt], Donnerstag, 16. Dezember 1790, abends 11 Uhr   ]


ist indelikat genug gewesen, ihm sagen zu lassen, sie fände es sonderbar,
daß er ihr sein Kind alle Tage vor der Nase herumtragen ließe.
Wie albern! Einige meinen, er werde sich wohl noch gar das
Schätzgen antrauen lassen, um dem Kinde eine gesichertere Existenz
zu verschaffen. Aber verzeih, daß ich Dir so viel davon schreibe.
Ja Bill, Li will alle die Sterne lernen, die Du behältst, sonst
keine. Heut morgen erwacht ich, einen Augenblick darauf schlug es
sechs. Da fiel mir’s so auf, daß Du nun wohl aufstündest und
zum jungen Spalding *) gingest, Hebräisch zu lernen. Ich stieg leise
auf, damit es Madame nicht höre, ging in die Stube und sah zum
Fenster hinaus. Durch trübes Gewölk schimmerten einzelne Sterne.
Ich bat sie, Dich zu grüßen und Dir zu sagen, Li sei wach und
denke Deiner. Dann legt ich mich wieder hin, aber ich konnte nicht
mehr schlafen. So rege umschwebte Dich meine Seele. Ich war
in Deiner Stube, ich sah Dich anziehen, ich ging mit Dir herum,
und sogar Johanns Gestalt wurde mir lebendig. Die hebräische
Li ist nicht hübsch, doch bin ich ihr so gut, weil sie mich als Dein
Eigentum benennt. Gott, wie ich das bin, wie ich nur in der
Empfindung, ganz und unaussprechlich Dir anzugehören, ein Da-
sein habe! Bill, ich sage es Dir auf jedem Blatte, ach, verzeih —
ich kann es aber nie und oft genug sagen, denn es ist ja der ewige
Widerhall meiner Seele. Der Moment, in dem ich Dich nicht
dächte, Du einziges Wesen, vernichtete auch mein Dasein.
. . . So gewiß fühl ich’s auch, daß ich nicht fern von Dir
sterben könnte. Um meine Gesundheit darfst Du ruhig sein, sie ist
leidlich, und es wird alles noch besser mit der Seele werden. Seit
ich hier bin, spuckte ich kein Blut, oder wenigstens nur einmal. Ich
kann mich dessen nicht mehr erinnern, weil es schon so lang her ist. —
Morgen abend kommt Lili mit dem Ursus **), der den Mittwoch
zurückgeht. Ach, wie mein Herz verlangt, ihr schöne Momente zu

———
*) Vgl. S. 275. — **) Vgl. S. 311.

                                                                       338