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[   Band 3 Brief 130:    Humboldt an Caroline    Königsberg, 10. November 1809   ]


Höchste kann nur der fühlen, der fähig ist, das weniger Hohe auf
der ihm gebührenden Stufe zu halten und es zu behandeln, wie
seine Natur es verlangt. Wer aber wirklich glücklich ist, wem sich
das Beste gegeben hat, was die Menschheit kennt, der muß es
nicht besitzen wollen wie einen schnöden, gewöhnlichen Besitz, der
muß seine Freiheit in der Freiheit der andern, und die ihre in der
seinigen ehren. Das beste ist, daß Carl in der Ausübung es auch
so streng nicht nimmt. Es sind nur die Worte »Pflicht und
Gehorsam«, die er im Munde führt.
Nun lebe wohl, mein einzig Kind! Umarme alle Kleinen.
Mit ewig unveränderter Liebe Dein H.


131. Humboldt an Caroline          Königsberg, 14. November 1809

Ich habe vorgestern Deiner und Roms mit tiefem Schmerze
gedacht. Es ist unendlich weh und bang, wenn das
rollende Jahr denselben Schmerzenstag immer wieder und
wieder bringt und das Bild des Geliebten immer ferner in die
Vergangenheit zurücktritt. Und doch hat diese Wiederkehr auch eine
eigene nicht abzuleugnende Süßigkeit. Das Andenken, wie lebendig
und rege es auch immerfort sei, scheint dadurch erneut und neu
geheiligt, und das Periodische in der Wiederkehr prägt der Seele
tief die Natur des Schicksals der Menschheit ein, das im unauf-
hörlichen Wechsel aller Ereignisse dem einmal Vergangenen durch
das Unauslöschliche der Erinnerung eine starre, wandellose Ewig-
keit gibt. 
Bringe ja das liebliche Köpfchen des kleinen Gustav und
Luisen mit. Die Arme sah ich nie im Leben *), Gustav ist mir

———
*) Vgl. Bd. II, S. 271f.

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