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[ Band 1 Brief 109: Caroline an Humboldt [Erfurt], Donnerstag, 16. Dezember 1790, abends 11 Uhr ]
Sonnabend abend [18. Dezember 1790] Wenn ich von ohngefähr in der Schmidtin ihr Zimmer komme und finde ihren Wilhelm *), so wird mir, ach! ich vermag’s nicht zu sagen wie —— ich breche ab, ich frage nicht, nach was ich fragen wollte, und eile hinweg. Ich kann den Anblick nicht ertragen, und doch beseligt mich der Gedanke, daß sie sich lieben. Ich mag ihnen keinen Moment rauben, den sie ohne meine Gegenwart schöner zu- bringen könnten, obschon ich wohl weiß, daß ihre Gefühle gar nicht die sind, wo dieser Verlust wirklich Verlust ist und schmerzlich wird. Ich messe die Empfindungen andrer nie nach den meinen, sondern nach dem Maßstab, den mir ihr eignes Wesen dazu an- gibt. Darum vielleicht ist mein Urteil mild und gerecht, darum kann ich das, was des andern höchstes Gefühl ausmacht, respektieren, wenn es sich gleich in mir als ein sehr gewöhnliches gestaltete, darum umschwebt mich die so lichte Ahndung höherer, schönerer Gefühle in denen, deren größeren inneren Gehalt, deren Reichtum und Fülle ich mit so unendlicher Wonne fühle. Dieser Zug in mir ist der erste, der mich Dir lieb gemacht; ewig, o, mein Ge- liebter, wird er darum auch mir teuer bleiben. In der Tat begreife ich aber auch nicht, wie man anders sein, wie man den Menschen anders beurteilen kann als nach dem, was er ist, wie man, wenn man seine Eigenheiten nicht zu fassen vermag — und das kann so un- endlich oft der Fall sein — über seine Empfindungen auszusprechen wagt. Es ist eine entsetzliche Vermessenheit — doch laß mich davon abbrechen, denn es führt mich auf ein Kapitel, auf das ich nicht gern komme, auf das einer kleinlichen Eitelkeit, durch die selbst die schönsten Charaktere nur zu oft das verlieren, was ihre Schönheit vollenden würde. Es macht mich traurig, wenn ich dem Gedanken nachhänge, und im Umgange mit Menschen kann man ihm nicht entgehn, denn die neuen Beweise für seine traurige Wahrheit ——— *) Vgl. S. 164. 333