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[ Band 7 Brief 102: Humboldt an Caroline Schulpforta, 25. November 1823 ]
aber dem Verlangen der anderen Lehrer nicht widersetzen mögen, und darin hat er vielleicht auch nicht unrecht getan. In Weimar habe ich bei meiner Rückkunft aus Rudolstadt nur Carolinen und Goethe gesehen. Mit Goethe war es ungefähr wie ich ihn verlassen hatte. Er muß immer die Nächte auf dem Stuhl bleiben, ist daher matt, hat keinen Appetit und hustet noch viel. Einige Besserung aber fand ich darin, daß er wenigstens auf dem Stuhl die Nächte geschlafen und nur abends und mor- gens gehustet hatte, daß er auf die Blutegel Erleichterung im Unterleib verspürte, daß er wenigstens die »Tausend und eine Nacht« las und weniger Bier trank, wie mir auch sein Bedienter mit Freuden erzählte, der dies Unwesen auch mit Bedauern sah. Auf diese Weise ließe sich wohl Besserung hoffen. Dagegen hat der Geheime Hofrat Herscher, der aber nicht sein eigentlicher Arzt ist, Carolinen gesagt, daß das Hauptübel in den Nieren sitze, daß eine bereits ganz zerstört und die andere auf dem Wege dahin sei, daß Wassersucht mithin die unfehlbare Folge sei. Er glaube nicht, daß er länger als ein Jahr leben könne. Was soll man nun für wahr halten? Prophezeiungen dieser Art sind doch oft falsch, und wie will man wissen, daß eine Niere ganz zerstört ist? Ich bleibe dabei, daß, wenn wir heute den 25. April schrieben, Goethe bald besser sein würde, und daß Aufheiterung, mannig- faltigerer und seiner Individualität mehr zusagender Umgang ihre Wirkung nicht verfehlen könnten. Ich kann nicht leugnen, daß ich mit wahrer Wehmut von ihm geschieden bin. Ich habe seine noch immer sehr schöne Stirn, die so das Bild seines freien, weiten, unbegrenzten Geistes ent- faltet, mehrere Male, da er eben saß und ich ihn nicht aufstehen lassen wollte, geküßt, und ich zweifle, daß ich ihn je wiedersehe. Es geht unendlich viel mit ihm dahin, meinem Glauben nach mehr, als je wieder in deutscher Sprache aufstehen wird. 196