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[ Band 7 Brief 99: Humboldt an Caroline Weimar, 19. November 1823 ]
ihr die Rede, und es sei nun, daß sie noch sehr, wie ich glaube, in seiner Seele herrsche oder nicht, so ist gewiß, daß ohne sie diese wirklich himmlischen Verse nie entstanden wären, und damit hat sie denn ein bleibendes Verdienst. Denn es gibt doch eigentlich nichts Höheres, als ein Gefühl, selbst welches es sei, wahrhaft ge- lungen in Poesie vorgetragen. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm zu sagen, daß ich wirklich erstaunt wäre, ihm noch diese Jugendlichkeit des Talents und des Gefühls, da solchem Gedicht ein wirkliches zugrunde liegen müsse, zu finden, und daß diese Geistes- und Phantasiestärke wahrhaft Gewähr leiste, daß, wenn nicht ein Zufall ihn dahinraffe, er noch für lange Jahre Lebenskraft besitze, und wirklich hätte ich nie ge- dacht, daß er dessen noch fähig sei. Er sagte darauf selbst, daß man wohl damit dem Leser den Geburtstag des Dichters zu raten aufgeben könne. In keiner Silbe des Gedichtes ist des Alters er- wähnt, aber es schimmert leise durch; teils darin, daß alles darin so ins völlig Hohe und Reine gezogen ist, teils in der umfassenden Fülle der Naturbetrachtung, auf die hingedeutet ist, und die Reife der Jahre fordert. Goethe wurde über das Gedicht, von dem er selbst sehr naiv sagte: »Ich habe nicht aufhören können, es so lange zu lesen, bis ich es nun auswendig weiß; ich habe mir auch darin nachgesehn, warum soll man sich solche Genüsse versagen?« Er wurde, wollte ich sagen, über das Gedicht und meine Freude daran so gehoben, daß er, sein Übel vergessend, mit ganz ungewöhnlicher Heiterkeit sprach und sicher lange fort gesprochen hätte, wenn nicht der Groß- herzog plötzlich hereingetreten wäre. Dieser suchte mich auf, um mir bei dem schönen Sonnenschein, den wir heute hatten, das Palmenhaus in Belvedere zu zeigen, das ich neulich bei dunklem Wetter gesehen hatte. Es ist mir sehr klar geworden, daß Goethe noch sehr 188