< zurück Inhalt vor >
[ Band 7 Brief 99: Humboldt an Caroline Weimar, 19. November 1823 ]
geben. Ich wäre dann erst nach Burgörner gegangen und hätte ihn dann ordentlich genossen, was freilich jetzt nicht der Fall sein kann. Die wichtigste Frage aber, wie gefährlich oder bedenklich nun sein Übel eigentlich ist, weiß ich kaum zu beantworten, glaube mich indes nicht zu irren, wenn ich sage, daß es für jetzt zwar nicht gefährlich ist, aber es gewiß werden muß, wenn es noch Wochen hindurch so anhält. Heute früh habe ich eine himmlische Stunde bei ihm zugebracht, die ein reicher Lohn für die ganze Reise ist. Ich muß Dich aber sehr bitten, niemandem ein Wort davon zu sagen, weil er äußerst geheim damit tut. Ich habe Dir erzählt, denke ich gewiß, daß er mich neulich hatte den »Paria« lesen lassen. Gestern gab er mir ein Buch des »Divans«, zu dem er mehreres neu hinzugedichtet hatte. Es war sehr Hübsches darunter, doch nichts, was einen bei Goethes früheren Sachen ver- wundern konnte. Heute gab er mir ein eigen gebundenes Gedicht, eine Elegie. Ich sah schon, daß sie sehr zierlich und sorgfältig äußerlich in Band und Papier behandelt war. Sie war ganz von seiner Hand geschrieben, er sagte mir, es sei die einzige Ab- schrift, die davon existiere, er habe sie noch niemandem, ohne Aus- nahme, gezeigt und werde sie noch lange nicht, vielleicht nie drucken lassen. Er habe sich aber auf meine Ankunft gefreut, weil er vorher wisse, ich werde mit ihm fühlen. Er sagte das alles in einem bewegteren und sich mehr erschließenden Ton, als ihm sonst eigen war. So fing ich an zu lesen, und ich kann mit Wahrheit sagen, daß ich nicht bloß von dieser Dichtung entzückt, sondern so erstaunt war, daß ich es kaum beschreiben kann. Es erreicht nicht bloß dies Gedicht das Schönste, was er je gemacht hat, sondern übertrifft es vielleicht, weil es die Frische der Phantasie, wie er sie nur je hatte, mit der künstlerischen Vollendung verbindet, die doch nur langer Erfahrung eigen ist. Nach zweimaligem Lesen fragte ich ihn, wann er es gemacht habe. Und als er mir sagte: 186