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[   Band 6 Brief 106:    Humboldt an Caroline    London, 31. Julius 1818   ]


ganzen Juvenal durchgelesen und jedesmal dieselbe Bemerkung ge-
macht. In Deutschland und bei uns ist nicht gerade solche Ver-
derbnis, aber eine Flachheit und vor allem eine Eitelkeit, eine Sucht
eines jeden, sich in alles zu mischen, keine Bewunderung mehr des
Großen, keine Ehrfurcht für das von lange her Geachtete, bei vielen
eine wunderbare Religiosität statt einfacher Religion, viel recht gutes
Streben, auch aufopfernde Gesinnung, aber mit so vieler Parade, so
vielem Bestehen und Trotzen darauf, mit einem solchen Wesen aus
sich selbst machen (wovon wirklich oft die Besten nicht frei sind), daß
man wohl mit der Bibel sagen kann: sie haben ihren Lohn dahin.
Ich muß selbst lachen, süße Li, daß ich mit einer wahren
Bußpredigt schließe. Verzeih Du es mir, geliebtes Kind. Um-
arme die lieben Mädchen. Ewig Dein H.


107. Humboldt an Caroline                        London, 4. August 1818

Ich fange mit großer Freude den neuen Monat an. Es ist
der vorletzte, der das rollende Jahr vollendet, das ich hier
gewesen sein werde. Sehr traurig macht es mich freilich,
daß es mir immer deutlicher wird, daß ich werde hier unbestimmt
warten müssen. Ich kann Dir nicht sagen, wie unglücklich mich dies
Zögern macht. Wenn ich von hier weg bin, wie es auch sein möge,
ist doch die Möglichkeit gegeben, mit Dir vereinigt zu werden, aber so-
lange mich das schreckliche Meer umzingelt, ist es eine eiserne Mauer
zwischen mir und Dir. Es fallen mir sehr oft die Strophen der
Maria Stuart ein von Schiller, wie sie sich so nach Frankreich
hinüber sehnt. Schiller hatte wirklich eine Gabe, die ich keinem
wieder je gekannt habe, sich in Lagen zu versetzen, ja Naturereig-
nisse zu schildern, die er nie gesehen hatte.

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