< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 6 Brief 58:    Humboldt an Caroline    London, 10. März 1818   ]


Weit mehr so aber ist es mit denen, die nun schon Jahrhunderte
und Jahrtausende in der Phantasie leben, Cassandra, Iphigenie usf.
Wenn man dem nachgeht, sieht man, wie wenig die Wirklichkeit
ist, wie bloß so ein Boden, auf den man den Fuß aussetzt, um
ihn zu verlassen, und wie alles der Gedanke und die Phantasie.
Darum behaupte ich noch heute, was ich schon in meiner ersten
Jugend sagte, daß, bestimmte Sehnsucht abgerechnet, man nicht
unglücklich wäre, wenn man auch ohne Bücher und Menschen
jahrelang in vier Mauern oder in einer Einsiedelei säße. Was
man so mit sich selbst treiben kann, findet kein Ende und keine
Grenzen, und man stürbe immer so hin, daß man fühlte, noch das
Meiste vor sich zu haben.
Auf Kunths Rechnung sind drei Friedrichsdor zu einem
Denkmal für Löffler *) aus Gotha. Er hat mich Griechisch gelehrt,
und ich bin ihm darin mehr schuldig als ich sagen kann. Ich hätte
es ohne diesen Zufall nie gewußt, wenigstens nie recht ordentlich,
aber vermutlich gar nicht, und es läßt sich nicht berechnen, was
mir dann vom Leben und der Welt abginge. In mir hängt wirklich
alles Geistige wie an einem letzten Ring an den Alten, und die
wahren Alten sind doch nur die Griechen. Für deutsche Dichtkunst
ist mir erst durch Dich der Sinn aufgegangen, ich hatte, ehe ich
Dich sah, selbst von Goethe sehr wenig gelesen, den Werther etwa
nur einige Monate vorher.

———
*) Josias Friedrich Christian Löffler, geb. 1759, † 1816, Professor der
Theologie.

                                                                       146