< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 6 Brief 58:    Humboldt an Caroline    London, 10. März 1818   ]


wie die Nächte. Es ist sehr wunderbar aber sehr wahr, daß die
Märchen und Fabeln gar nicht so zufällige und willkürliche Geburten
der Phantasie einzelner Menschen sind; mir kommt es immer vor,
als wenn die Nationen und das ganze Menschengeschlecht den Stoff
in einer bestimmten Anlage dazu in sich trüge und wie durch Instinkt
genötigt wäre, ihn aus sich heraus zu spinnen, woher denn die
gewisse Gleichförmigkeit kommt, die alle diese Dichtungen an sich
tragen, und in der sie sich weiter verzweigen. Diese macht dann
auch, daß die verschiedenen Erzählungen sich aneinander reihen, in-
einander einfügen, und daß so eine wahre Welt daraus entsteht,
die neben der Geschichte hergeht und sich mit ihr zu verweben sucht.
Denn die Dichtung hat doch das Eigene, daß sie immer für wahr
gelten will, so wie die Geschichte gern selbst wunderbar scheint, um
sich ihr zu nähern. Wie in der Geschichte kann man in der
Dichtung Epochen angeben, wo diese oder jene Figur entsteht,
andere mehr in Schatten treten. Manchmal geht es auch einzelnen
Menschen so. In mir haben sich seit meiner frühsten Kindheit
Gestalten gebildet von Männern und Frauen, davon manchen gar
nichts Wirkliches zugrunde liegt, und wo in andern die schwache
Wirklichkeit, an die sie sich anlehnten, so gut als verschwunden ist.
Als Kind, und bis in mein 14., 16. Jahr, wo das Leben mehr die
inneren Gestalten zurückscheucht, lebte und webte ich darin, und noch
kommen sie mir manchmal vor. Das Schaffen aus Nichts ist
überhaupt eine der wunderbarsten Kräfte des Geistes. Alle Dichter-
gestalten, um jetzt nicht von der eigentlichen Märchenwelt zu sprechen,
treten doch wirklich ins Leben ein; für alle Menschen, die je den
Wallenstein mit Sinn gelesen haben, ist doch seitdem die Welt
und die Menschheit anders, seitdem ihnen eine Gestalt wie Thekla
aufgegangen ist, und dadurch wirkt sie nun auch auf die, die nicht
einmal das Stück kennen, teils unsichtbar, teils als ein Name, an
den sich nun auch außer dem Stück ein bestimmter Charakter heftet.

                                                                       145