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[ Band 4 Brief 218: Humboldt an Caroline Wien, 4. Dezember 1814 ]
wird vollkommener, wenn einmal ein Text ganz genau zu einer Übersetzung paßt, und Hermann verdient es um mich, weil er seit zehn Jahren vielleicht und noch jetzt fortdauernd über meine Über- setzungen vorteilhafter wie jeder andere urteilt. Dann ist ja alles ein Spiel, und das Spiel, denselben Gedanken bald in diesen, bald in jenen Rhythmus zu bringen, hat für mich großen Reiz. Ich werde nach dem Agamemnon, wenn nur der fertig wird, nie wieder übersetzen. Aber der Agamemnon ist mir auch in jedem seiner Verse so tief in die Seele gegangen, daß es mir ist, als lebte ich nur durch ihn in Griechenland. Und doch wird es mir nur im Altertum heimatlich. Im Mittelalter und im Modernen wird mich nie etwas nur halb so stark anziehen, und jetzt ändert sich das in meinem Leben schwerlich mehr. Gestern vormittag habe ich sechs Stunden hintereinander allein den Professor Olivier *) bei mir gehabt, von dessen Buchstabiermethode Du vielleicht gehört hast. Er gründet sie auf ein allgemeines Alphabet, das auf einer natürlichen Abteilung aller Buchstabenlaute nach den Sprachorganen beruht. Die Sache ist, außer dem Lesen- lernen, sinnreich und wichtig, und es interessierte mich also, sie genau kennen zu lernen. Die Freude, die der arme alte Mann hatte, endlich einmal auf dem Kongreß jemand zu finden, der Geduld und Zeit hatte, kannst Du Dir nicht vorstellen. Ich habe lachen müssen, daß Du doch auch findest, das Sehen mancher Leute müßte mir unangenehm sein. Das weiß Gott! Aber die Leute leben ja darum zusammen, damit sie sich gegenseitig an diese unangenehmen Eindrücke gewöhnen, und somit wird der Zweck erreicht. Du bist unendlich lieb, süßes Herz, Dich her zu mir zu wünschen. Wohl wärst Du mir ein großer und unbeschreiblicher Trost. Es wird ja auch wiederkommen, dies ersehnte Beisammen- ——— *) Ludwig Heinrich Ferdinand Olivier, geb. 1759, † 1815, philanthro- pischer Pädagog, einer der ersten Lehrer des späteren Kaisers Wilhelm I. 429