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[ Band 4 Brief 178: Humboldt an Caroline London, Downing Street, ]
Kunst abgibt, alles beurteilt und selbst zeichnet und malt. Nur hat er unglückliche Vorurteile für alles Französische in der Kunst, namentlich für Gérard. Nach dieser Beschreibung siehst Du, liebe Li, daß man hier von vielem abstrahieren und anderes mit saurer Mühe erringen muß. Aber demungeachtet ist man gern hier und fühlt mehr als in einem anderen Lande vereinigt ein Interesse des Geistes und des Gemüts. Denn Ernst, Rechtlichkeit, und wo es nur sein kann, auch Tiefe und Schonung der Gesinnung, trifft man hier nicht bloß individuell bei diesem und jenem an, sondern man wird inne, daß das ganze nationelle öffentliche und Privatleben gleichsam in dies Element eingetaucht ist, und dies spricht sich in den Ein- richtungen, in den gewöhnlichsten Anordnungen, in dem Anblick des Landes, der Städte und ihrer Bauart und vor allem in den Physiognomien und dem Wesen der Menschen aus. Wenn man daher auch augenblicklich mißmutig werden könnte, versöhnt man sich immer wieder mit dem Ganzen und fühlt, daß der Mensch als Gesellschaft und in Masse doch hier am würdigsten er- scheint. Mit Frankreich steht alles hier im geraden Widerspruch. Der größte Reiz des Lebens in Frankreich ist, meinem Gefühl nach, die Möglichkeit und Leichtigkeit, in der Menschenmasse ganz in sich, wie unter Fremden, fast wie unter Wesen, mit denen man fast nichts gemein hat, zu leben. Man fühlt dabei kein Hindernis, weil die Befriedigung jedes Wunsches leicht ist, man wird dazu angezogen, weil die Menschen immer ein buntes Schauspiel geben, durch das man doch nicht veranlaßt wird, sie von der Bühne zu sich herunterziehen zu wollen. In England wäre das unmöglich. Man ist alle Augenblicke gehemmt und gestoßen, die Welt um einen her ist scheinbar einförmig und sogar langweilig, und wie und wo man dahin kommt, sie anders zu sehen, nimmt man zu 352