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[   Band 3 Brief 190:    Humboldt an Caroline    Berlin, 22. Mai 1810   ]


190. Humboldt an Caroline                  Berlin, 22. Mai 1810

Es ist eine wunderbare Zeit, liebe Li, diese Wochen der
Ungewißheit und der Erwartung. Der Zufall will, daß
ich jetzt mehr wie je mit Geschäften überhäuft bin; ich
muß sogar in dem Augenblick, wo ich nichts anderes voraussehe,
als sehr bald abzutreten, noch neue Dinge organisieren und vorzüglich
die hier zu errichtende Universität so in Tätigkeit setzen, daß die
Vorlesungen mit Michaelis angehen können. Mit wie vielen
Schwierigkeiten ich bei dem allen zu kämpfen habe, wie die Ge-
lehrten — die unbändigste und am schwersten zu befriedigende
Menschenklasse — mit ihren sich ewig durchkreuzenden Interessen,
ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihrer Lust zu regieren, ihren einseitigen
Ansichten, wo jeder meint, daß nur sein Fach Unterstützung und
Beförderung verdiene, mich umlagern, wie dann noch jetzt Unan-
nehmlichkeiten und Zänkereien mit andern Kollegien und Menschen
hinzukommen, davon hast Du, teures Kind, keinen Begriff. Jeder,
der mich sieht und die Umstände kennt, wundert sich darüber, daß
ich auch in diesen letzten Augenblicken die Geschäfte mit gleichem
Eifer und gleich ununterbrochen fortgehen lasse, und wirklich bin ich
überzeugt, daß nur bei sehr wenigen eine solche Krise keinen Still-
stand hervorbringen würde. Ich mache es aber, wie Du mich
sonst in anderen Arbeiten und Geschäften kennst. Wenn auch nur
noch fünf Minuten übrig sind, scheue ich mich nicht, noch etwas
Neues anzufangen, und so kommt auch in diesen ewig unter-
brochenen Intervallen etwas zustande. Aber meine innere Sehn-
sucht nach Dir läßt sich durch dies äußere Treiben nicht beruhigen
oder täuschen. Mehr wie je schweben mir alle Bilder unseres
sonstigen einfachen und stillen Zusammenseins vor der Phantasie,
und mehr wie je wünsche ich diese schönere Zeit bei mir zurück.
Warte nur noch wenige Wochen, denn es ist unmöglich, daß der

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