< zurück Inhalt vor >
[ Band 3 Brief 105: Humboldt an Caroline Königsberg, den 15. August 1809 ]
105. Humboldt an Caroline Königsberg, den 15. August 1809 Ich bin heute früher als gewöhnlich ausgestanden, liebe Li, und schreibe Dir zuerst. Es war der erste unglückliche Tag, den wir erlebten, und alle schrecklichen und weh- mütigen Bilder sind mir aufs neue vor die Augen getreten. Der liebe gute Wilhelm, er wäre jetzt groß und stark, und bei Dir oder mir oder auch allein für sich, wäre brav und machte uns Freude. Es ist aber immer unendlich schön, ihn auch nur so, nur diese flüchtigen Jahre besessen zu haben. War sein liebliches, schon im kindischen Alter tiefes Wesen nur kurz unter uns, so war es doch, hat sich aus uns erzeugt und entwickelt, und ist eine schöne Form der Menschheit mehr, die auch uns in dieser oder jener Gestalt wieder begegnen wird. Was sich einmal zum wahren Individuum gestaltet hat, ist dem bildungslosen Stoff entrissen, in das allein wahrhaft Lebendige übergegangen, und es ist wirklich kürzere oder längere Dauer hier von dieser Seite, in sich gleichgültiger und minder bedeutend. Ist gleich alles jenseit des Grabes dunkel und ungewiß, so ist die Kraft der Liebe doch unzerreißbar stark, und was man sich so einmal angeeignet hat, kehrt doch durch alle Irrwege der Wesenumgestaltung zurück. Dies reine und innere Leben, das zu der höchsten Regsamkeit gestimmt sein muß, um in tiefe und wirkliche Liebe aufzublühen, beherrscht doch eigentlich alle dunkeln unverstandenen Kräfte der Natur, und was man einmal durch Empfindung darin verflochten hat, bleibt durch alle Ewigkeit hindurch unverloren. Wieviel, mein süßes, teures Herz, gäbe ich darum, heute mit Dir bei der Pyramide zu sein. Es ist auch hier ein schöner, warmer Tag, da wird die himmlische Stille herrschen, die dem Sommer im Süden so eigen ist, wenn selbst das hohe Gras nur einzeln von Insekten durchschwärmt wird. Es gibt nichts Schöneres 216