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[ Band 3 Brief 4: Humboldt an Caroline Venedig, den 24. Oktober 1808 ]
eine bloße Wasserstadt sei. Man kann, ein paar abgesonderte Inseln abgerechnet, überall zu Fuß hingehen, und einige Straßen und Kais sind sogar breit. Nur um den Markt herum sind sie so eng und dunkel, daß es wie ein Irrgarten ist, in dem man ewig fehl geht. Vom Meer muß man hier gar keinen sehr schönen Anblick erwarten. Selbst vor dem Hafen, von dem man es am besten sieht, liegen Inseln vor und immer sind es nur die Lagunen, denen alles Große und Majestätische des Meeres, so wie man es um Cadix, Malaga und anderen Häfen sieht, fehlt. Ich habe hier unvermutet Cicognara *) gefunden. Er hat uns heute früh in eine Galerie im Palast Manfrin geführt, wo ich Dich wohl hingewünscht hätte. Zehn Zimmer und äußerst wenig mittelmäßige Stücke. Sehr schöne Gemälde von allen Schulen, aber von der Venetianischen, besonders Giorgione, so, wie man sie sonst vielleicht nirgends sieht. Es gibt auch außerdem noch viel merkwürdige Bilder hier, die aber zerstreut sind und die ich bei weitem nicht Zeit haben werde, alle zu sehen. Morgen ist wieder Posttag, und da hoffe ich gewiß auf einen Brief von Dir. Schrecklich wäre es, wenn ich keinen bekäme. Dann müßte ich bis München warten. Denn übermorgen reise ich schlechterdings ab, ich muß jetzt machen, daß ich über den Brenner komme. Hier ist schon eine schreckliche Kälte, doch bin ich sehr heroisch und schreibe bis um Mitternacht in einer Stube ohne Kamin. Da diese Reise einmal ein Märtyrertum ist, so gehört die Kälte mit zu den leichtesten Plagen vielleicht. Ach! es wird mir unendlich schwer werden, Dich alle die langen, langen Monate zu ent- behren. Du warst immer so gut und so lieb und erheitertest mir jeden Augenblick. Wenn ich Dir amüsant schien, war es erst, weil Du ——— *) Leopoldo Graf von Cicognara, italienischer Kunstschriftsteller, war seit 1808 Präsident der Academie der schönen Künste in Venedig. 5