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[   Band 2 Brief 103:    Humboldt an Caroline    Marino, 11. September 1804   ]


finstert. Aber die Pupille, liebe Seele, ist ein bloßes Loch. Es ist
also wohl die Kristallinse, die verfinstert ist. Das Wohlbefinden
der Li freut mich unendlich und ebenso ihr Sinn für Musik. Wenn
sich nur eine Pforte erst öffnet, durch die das eindringt, was mehr
als irdisch ist, so fängt der Mensch schon an, geborgen zu sein und
bereitet sich eine innere Heimat. Ich habe immer in Carolinen den
Punkt erwartet, auf dem sich ein höheres Interesse in ihr zeigte;
solltest Du auch glauben, daß ihr Sinn für Musik sie dahin führt,
so müssen wir es hier nun ernstlicher betreiben und ihr ein weniger
spielendes Instrument geben, daß sie sich an eine tiefere und vollere
Harmonie gewöhnt.
Daß Du mir trüb über Wilhelm schriebst, darüber entschuldige
Dich nicht, teures, liebes Wesen. Du siehst auch aus meinen Briefen,
wie ich mich gehn lasse, und ich weiß, daß Dich manche Stelle meiner
Briefe nicht anders als wehmütig machen kann. Aber wir haben
immer beide die sogenannten Schonungen gehaßt, und mir und Dir
ist es gleich verhaßt, den Empfindungen willkürliche Schranken zu
setzen. Wohl hast Du recht, daß sein Tod die Folge der Verkettung
einer Menge kleiner Umstände war. Aber, liebe Li, wie überall, so
sind auch hier dies nur scheinbare Ursachen. Das Leben des Menschen
hängt nicht von diesen unbedeutenden Ereignissen ab. Wenn er ge-
boren wird, trägt er den Keim seines Todes wie seines Lebens in sich;
nicht die Umstände sind es, die über ihn gebieten, seine Bestimmung
lenkt und ordnet sie selbst. Schon darum hätten wir recht, uns keine
Vorwürfe zu machen, aber es ist auch nicht einmal, daß wir seinen
Tod veranlaßt hätten. Daß wir ihn nach L’Ariccia zurückschickten,
war vielleicht noch das einzige, das sich sagen ließe. Und welcher
Anschein auch nur von Gefahr war dabei? Wir taten nichts, was
nicht in jeder Rücksicht unschuldig, was nicht sogar besser war als
das Gegenteil. Hättest Du dem Arzt nicht folgen wollen, der nun
einmal der einzige war, den Du haben konntest, so hättest Du im

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