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[ Band 2 Brief 92: Caroline an Humboldt Paris, 14. August 1804 ]
Ich bin die vorige Woche täglich ein paar Stunden auf dem Museum bei den Statuen gewesen, bis auf vorgestern, denn seit vorgestern ist ein solch fürchterlicher Regen und Wind, daß ich mich nicht getraut habe auszufahren, weil ich durch den Zufall an der Brust vor vierzehn Tagen sehr gewitzigt bin. Die Pallas von Velletri und die tragische Muse sind nun aufgestellt, aber sie machen in dem kleinen und für diese Gestalten niedrigen Zimmer einen schlechten Effekt und sehen weit kleiner aus als die Gipse in Rom. Über- haupt finde ich, daß man weit mehr genießt und der Künstler weit mehr zu studieren fähig sein muß, wo die Gestalten, die die Kunst gebildet hat, nicht in solcher ungeheuren Menge nebeneinander stehen wie hier. Vorigen Sonnabend, wo die Nachricht von Alexander aus Bordeaux zuerst hier erklang, wurde es von früh 8 Uhr bis Abends um 10 Uhr nicht leer von Leuten bei mir, die sie mir teils hinterbringen, teils Glück wünschen wollten. Alexander wird hier in süßem Weihrauch leben. Welch ein Tag heute ist, ach mein Wilhelm, ich darf es kaum aussprechen, und doch kann ich nichts anderes denken! Ich möchte nicht, daß Alexander heute oder morgen ankäme, ich möchte nicht, daß uns je in allen diesen Tagen etwas wahrhaft Erfreuliches be- gegnete, da das Schicksal uns in ihnen die tiefsten Schmerzen des Lebens empfinden ließ. Geliebtes Kind, ach, es ist nicht an Deinem Todestage allein, daß ich so an Dich denke, denn Dein Bild be- gleitet mein Leben und weicht mir nicht aus der Seele, aber jedes Wort, das Du noch aussprachst, ertönt mir wieder, da es der letzte Deiner Lebenstage war. Ach, wenn er noch irgendwo ist, empfindet, so muß er die unaussprechliche Sehnsucht ahnden, die das Herz der Mutter bewegt. — Werden wir je hinkommen, wo er ist — werden wir uns wiedererkennen, mein Wilhelm? Die Liebe ist ja etwas so Heiliges, Unendliches; wenn etwas über das Grab hinausreicht, so kann es nur sie sein! 220