< zurück Inhalt vor >
[ Band 2 Brief 71: Humboldt an Caroline Rom, 12. Mai 1804 ]
Dann hat sie einzelne große Bilder, die Liebe zur Juno, die Ge- burt des Centauren, und mitunter schöne Sentenzen. Du hast sehr unrecht, liebe Li, zu glauben, daß ich in Deiner Nähe nicht diese Beschäftigungen jetzt gleich gut forttreiben könnte. Daß ich dies jetzt machte, wurde bloß durch Moltkes Abreise veranlaßt. Seitdem habe ich nichts gemacht, nicht weil ich nicht Stimmung gehabt hätte. Aber es kostet unendliche Zeit, und ich möchte die Basken *) vom Halse haben. Diese sind sehr vorgerückt. Aber immer kommt wieder etwas dazwischen. Freitag und Sonnabend kann ich einmal schon nie daran arbeiten. In der Woche geht auch noch meist ein Tag ab, und die zufälligen Störungen, und Du mußt nicht glauben, daß ich durch Deine Abreise viel Zeit mehr gewinne. Der einzige Unterschied ist vielleicht, daß ich bei Tee und Frühstück lese, wirklich bin ich mit dem Ariost fertig und lese jetzt den Tasso, des Abends meist den Livius. Von der übermäßigen Bewunderung Ariosts bin ich doch etwas zurückgekommen. Es sind erstaunlich leere Gesänge, einige Fabeln, die ganze Verrücktheit Rolands, das Holen seines Ver- standes vom Himmel, sind mir abgeschmackt und nicht graziös, und es ist nirgends ein Ganzes, auch nicht einmal in seiner Phantasie. Bei einem auch durchaus rhapsodistischen Plan mußte er doch eine eigene Welt haben, aber nein, es ist zusammengeflickt und oft ge- borgt. Nur die unbegreifliche Leichtigkeit, die Stärke und Grazie der Sprache reißen immer hin, und daher kann man ihn gewiß ungeheuer oft lesen. Zeige meine Ode Goethen, wenn Du Gelegenheit hast. Sobald ich mit den Basken fertig bin, will ich den Pindar **) endigen. Hier in Rom, das fühle ich, gelingt mir alles, was ich nur über- haupt machen kann. Ach! liebe Li, alle Abend von 7——9, oft später, kannst Du mich auf einsamen Spaziergängen denken. In Gesell- ——— *) Humboldt arbeitete damals an dem Versuch einer Monographie des baskischen Volksstammes. — **) Die Pindarübersetzung ist nicht voll- endet worden. Es sind 12 vollständige Oden und 3 angefangene vorhanden. 165