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[ Band 2 Brief 68: Caroline an Humboldt [Erfurt], 4. Mai 1804 ]
Anlagen von der Natur ausgestattet war. Dürfte man nicht hoffen, daß in einem wahrscheinlich höheren und reineren Dasein eine so üppige, durch nichts verkümmerte und verschmälerte Blüte sich zum Göttlichsten entfalten würde? Wilhelm, so denk ich immer an Dich, aber die Tränen versiegen mir nimmer, und die Treue meines Ge- dächtnisses, das mir jeden kleinen Umstand aufbewahrt, ruft mir Tausende von dem Tage, wo er geboren, und ebensoviele von dem, wo er gestorben ist, auf einmal in die Seele zurück. Voriges Jahr sagte er bei Tische: »Nun, das nächste Jahr bekomme ich eine doppelte Zahl wie die Li«, und des Abends hatte er sich eine Kinder- gesellschaft zusammengebeten, die kleinen Geschwister der Keller *) und Ida, **) und wie die Kinder so tobten, gingst Du mit Fernow ***) bei- nahe im Dunkeln in dem großen Zimmer auf und ab — und er war so glücklich mit seinem Biskuitkuchen, seinen Pasten und besonders mit der Schildkröte, die ihm Keller geschenkt hatte, und so eitel auf das goldene Petschaft, was ich ihm hatte stechen lassen, und machte so viel kindische Projekte, woher er nun sich die Uhr verschaffen wollte. Verzeih, daß ich Dich an alles das erinnere, ich denke aber, es geht Dir wie mir, die dauernde Wehmut um ihn ist noch das einzige Leben mit ihm. 5. Mai Noch einen Gruß, indem ich den Brief zumache, um ihn ab- zusenden. Ach, es ist heut so schönes, heitres Wetter! Freundlich und hell scheint gewiß die Sonne auf unsres Wilhelms Grab, und es umfängt ihn der tiefblaue Himmel Roms. Du bist schwerlich draußen, Du hast heute zu schreiben, aber Deine Gedanken sind bei ihm. Ich kann nicht an Wilhelm denken, ohne nicht mit einer be- sonderen Wehmut an Dich zu denken — er war immer so ganz eigen um Dich, er liebte Dich so vorzüglich, er gehörte Dir auf eine so vor- ——— *) Gattin des Bildhauers. — **) Ida Brun, Tochter der Schrift- stellerin. — ***) Vgl. S. 152. 157