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[   Band 1 Brief 163:    Caroline an Humboldt     [Erfurt], Freitag abend, 10. Juni 1791   ]


163. Caroline an Humboldt          [Erfurt], Freitag abend, 10. Juni 1791

Wenn ich so des Abends aus Deinem Zimmer komme und
die Treppe heraufgehe, muß ich immer stehen bleiben und
den langen Gang hinuntersehen, sage dann wohl in Ge-
danken: »Gute Nacht, Bill«. Aber daß niemand mir antwortet,
kein Schimmer von Licht mir ins Auge fällt, das hat mich schon
oft so schmerzlich ergriffen. Und dann ist mir doch die Wahrheit
wieder so lieb. Ich will es keinen Augenblick vergessen, daß Du
mir fern bist, ich will leiden und es fühlen in seinem ganzen Um-
fange, daß ich getrennt bin von meinem schönsten, meinem einzigen
Dasein. Das Herz, das an Deinem Herzen schlug, mein Geliebter,
darf sich keiner Empfindung entziehen, die diese Liebe hervorrief.
Durfte ich es wagen, Dich mein zu nennen und zu genießen all
die unnennbare Wonne, die im Empfangen Deines heiligen Wesens,
im Hingeben des ganzen Seins an Dich liegt, o, so durft ich auch
hoffen auf höhere Kräfte, den Schmerz der Trennung zu tragen.
Und nicht vergebens hab ich gehofft. Nun, bald ist sie vorüber,
diese bange Zeit, bald umfangen diese Arme Dich wieder, und es
scheidet mich ewig nichts mehr von Dir. O, daß ich Dir zu sagen
vermöchte, wie der Gedanke mich durchglüht, die Hoffnung, daß,
wenn Deine Augen auf diesem Blatt ruhen, Deine Lippen diese
Küsse sehnender Liebe nehmen — Du Dir vielleicht die Stunde
bestimmen kannst, in der Du Deine Li wiedersiehst, von der an ein
neues Dasein für uns beginnt. O, nur eine Seele wie die Deine
konnte ein Glück dem unsern gleich schaffen, denn einzig und allein
geht es hervor aus dieser wunderbaren Vereinigung von Selb-
ständigkeit und Hingeben an ein andres Wesen, aus dem leisen
Sinn, mit dem die Seele geistige Gestalten rein und voll auffaßt
und in sich überträgt. Wer besitzt das alles wie Du, mein trauter
Wilhelm? Wer empfand so den Geliebten, nur lebend in der Liebe

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