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[ Band 1 Brief 125: Humboldt an Caroline [Berlin], Sonntag abend, 6. Februar 1791 ]
125. Humboldt an Caroline [Berlin], Sonntag abend, 6. Februar 1791 Ich verbrachte gestern eine sonderbare Nacht. Sollt es eigentlich Li nicht erzählen. Li wird böse werden. Es war so ein schöner gestirnter Himmel, und ich habe hier einen Menschen, Gentz *), der mir immer die Gestirne zeigt. Wir kamen so um elf nach Hause, und ich wollte noch gern das Haar der Berenice und die Krone sehen, die jetzt spät aufgehn. Er wurde schläfrig, und ich ließ ihn eine Stunde schlafen. Dann gingen wir wieder aus, und der Himmel war noch so schön. Der Wagen stand so hoch, sehnend hing mein Blick an ihm, ich gedachte Deiner, und lang ging ich schweigend an Gentz’ Seite. Meine Ruhe war nun hin, ich konnte die Nacht nicht mehr schlafen, ich mußte mich umtreiben bis an den Morgen. Gentz wollte zu Hause. Ich be- gleitete ihn, ließ ihn zu Bett gehn, und Clavigo fiel mir in die Hände. Ich hatte ihn nicht gelesen und las ihn, aber flüchtig. Im ganzen mißfiel mir das Stück. Es hat fast nichts von Goethes Eigentümlichkeiten. Einzelne Szenen, einzelne Stellen waren mir gar nicht merkwürdig. Das Ganze interessiert, aber ohne zu fesseln. Auch ist kein einziger recht interessanter Charakter, wie’s mir scheint. Selbst Marie bleibt sich nicht gleich und reicht nicht an die Weiber, die Goethe sonst schildert. Nachher nahm ich Werther und las tief hinein. Ich kam an die Stelle, wo er sagt, wie er den Kleinen Geschichten erzählt und sie immer auf dieselbe Weise erzählen muß. Weißt Du noch, wie Du mir das, eh ich den Werther gelesen hatte, auf dem Sofa in Erfurt sagtest, und wie Du’s auf Goethe selbst anwandtest? Dann schrieb ich Dir wieder davon, von dem Dorf bei Göttingen aus, und das hatte Dich so gefreut. O! Du teures, liebes Wesen, es freute Dich, wenn jedes Wort, das Du mir gesagt, in mir lebend blieb, wenn Du es wiederfandest in ——— *) Vgl. S. 353. 391