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[   Band 1 Brief 111:    Humboldt an Caroline    [Berlin], Mittwoch nachmittag, 22. Dezember 1790   ]


Genie, einen weiteren Überblick, aber man hat auch weniger be-
stimmt vorgeschriebene Regeln, was man tut, ist von größerem Ein-
fluß, das schreckte meine mißtrauende Ängstlichkeit, dann hat man
mehr mit anderen Menschen zu tun. Das hätt ich gar nicht er-
tragen. Dann war aber auch bei meinen Geschäften mehr von der
Art Kenntnissen, wie ich sie liebte, alte Sprachgelehrsamkeit, Ge-
schichte, Philosophie, und überall ein bestimmter Gang. Mit dem
allen bin ich auch noch einverstanden. Meine Ängstlichkeit in
Dingen, die auf andre Einfluß haben sollen, ist noch dieselbe, die
Kenntnis meiner selbst, das Gefühl meiner Unfähigkeit zu allem großen
Übersehen und großen Handeln in objektiven Dingen hat sich nicht
vermindert, meine Liebe zu jenen Studien nicht abgenommen. Aber
wie ich nach Göttingen kam, wie ich Stieglitz *), Jakobi **), Forster ***)
oft sah, wurde ich sehr mißtrauisch gegen das beschränkte Gute im
Geschäftsleben, und wie ich mich tiefer studierte, wie ich große
Charaktere in andern näher sah, o! und vor allem, wie Dein An-
blick mich ewig beschäftigte, da dämmerte es erst so in mir, daß
doch eigentlich nur das Wert habe, was der Mensch in sich ist.
Je länger ich so fortlebte, je mehr ich einsah, was immer war,
was ich aber nicht klar wußte, wie nah mein Geist meinem Herzen
war, da wurde es immer und immer gewisser in mir. Nun änderten
sich alle meine Ideen über Nützlichkeit. Den Weg zu suchen, der
mich, nur mich zum höchsten Ziele führte, schien mir meine Be-
stimmung. Mehr noch meine wie jedes anderen, weil ich einsah,
daß ich auf die Weise, wie man das Wirken und Nützlichsein ge-
wöhnlich nimmt, wenig Fähigkeit hätte, und das ist im höchsten
Verstande wahr, das fühl ich jetzt täglich. Ich bin nicht unzufrieden

———
*) Vgl. S. 83. — **) Humboldt hatte, von Forster an Jakobi empfohlen,
diesen auf seiner Rheinreise Herbst 1788 in Pempelfort aufgesucht. —
***) Humboldt hatte Georg Forster während dessen vorübergehenden Auf-
enthalts in Göttingen Sommer 1788 kennen gelernt und ihn denselben
Herbst in Mainz, wo sich jener als Bibliothekar niedergelassen hatte, besucht.

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