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[ Band 1 Brief 102: Humboldt an Caroline [Berlin], Sonnabend mittag, 4. Dezember 1790 ]
Sonntag abend Es war heut ein entsetzlicher Sturm und Regen. Ich ritt aus in der Abenddämmerung. Die Wellen der Spree rollten so dunkel ans Ufer. Am weiten Himmel hatten sich ringsum schwarze Ge- wölke gelagert. In den Wipfeln der Tannen brauste fürchterlich der Sturm. Da ward mir besser. Wie wunderbar wir der Natur außer uns unsre innere Stimmung mitteilen! Die Wildheit der tobenden Elemente verwandelte sich in mir in eine wehe Melancholie. Langsam ritt ich zwischen dem Wald und dem Strome hin, in einem jammervollen, aber ruhigen Gefühl. »Wie klagst Du«, rief es mir zu, »die entflohene Freude? Gleich einem Sonnenstrahl er- freut sie das arme Herz des Sterblichen, aber ein Sturm weht sie hinweg. Gehorche dem waltenden Schicksal.« Es war nicht Mut, den es mir ins Herz goß, aber eine Hingabe in die stärkere Macht, so ist’s mir oft, aber nie stärker, als wenn die Natur selbst so kräftige Spuren dieser Macht mir um mich her zeigt. Ich bin ein sonderbares Wesen. Aber der Anblick einer Gewalt, der nichts widersteht, hat mich immer so mächtig angezogen, wenn ich gleich selbst fortgerissen würde im Strudel und meine letzten, liebsten Freuden. Wie ich noch ein Kind war, erinnere ich mich so deut- lich, wie ich einen Wagen durch die vollen Straßen rollen sah und die Leute links und rechts aus dem Wege springen und den Wagen unbekümmert in gleicher Schnelle hineilen, dann klopfte das Herz mir so hoch. Lache nicht über mich, Li, und meine kindischen Erinnerungen. Was kann ich dafür, daß so viele Ansichten noch in mir sind, wie sie in meiner Kindheit waren, und daß es mir so eigen ist, geistige Gestalten in der Hülle der Sinnlichkeit zu sehen. Alles verwandelt sich vor meinem Blick so leicht nicht in Zeichen, aber in Ausdruck, und weil das tief in meinem Innern liegt, mein Gefühl es hervorbringt, nicht eine spitzfindige Vernunft es vor- räsonniert, so laß ich mich gern gehen und hindere nichts. 305