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[   Band 1 Brief 101:    Caroline an Humboldt     [Erfurt], 2. Dezember 1790, abends   ]


sehen, wenn sie einmal keinen Brief bekommen hätte. Armes
Mädchen, dacht ich, wie sie heut vorbeiging, ich bin glücklicher wie
Du, ich bekomme alle Woche zwei Briefe von meinem Geliebten
— aber auch wieder nicht, denn Deiner ist nur sechs Meilen von
hier und kann oft kommen. Ach, wenn Bill nur sechs Meilen
von mir entfernt wäre, käme doch wohl alle vierzehn Tage einmal,
oder, wenn’s auch nur alle Monat wäre? Habe ich Dir schon er-
zählt von einem hübschen Bauermädchen, das ich auf der Hinreise
nach Rudolstadt sah? Es war Kirmse in ihrem Dorfe, und ich
frug sie, ob sie sich mit ihrem Liebsten dabei recht lustig mache.
»Ach nein,« sagte sie, »der ist weit, und ohne ihn ist’s doch alles
nichts.« Ich frug, wie weit? »O gar weit,« antwortete sie, »er
ist vier Stunden von hier.« Die glückliche Einfalt rührte mich so;
vier Stunden, sagte ich mir, und wenn Du vier Tage gingest,
arme Li, so wärest Du noch nicht, wo Dein Bill ist. Ach aber,
daß ich nur dürfte, darauf wollt ich schon hin, und Füßchen trügen
mich gerne. Du hast recht, auf dem Schattenriß sind entsetzliche
Füße, der Künstler hatte aber auch nicht ihre Silhouette ge-
nommen. Sonst, meint ich, sei eine Ähnlichkeit im Profil, es
sagten’s mir verschiedene. Ach, Li ist jetzt gar nicht schön. Sieht
immer so blaß aus, und Augen haben unendlich verloren. Aber
laß Dir nicht bang sein, Li wird wieder hübsch, wenn sie bei
Dir ist.
Diese Nacht schlief ich mit Deinem Bild in der Hand —
das gab mir so einen eigenen Schlaf, ich werde es mehr tun. Die
Besorgnis, das Bild fallen zu lassen, macht ihn noch leiser — ich
kann das nicht so beschreiben, aber es hat mich sehr glücklich ge-
macht, weil ich die ganze Nacht Dich gedacht habe, obgleich ich
recht gut dabei geschlafen. Ich weiß nicht, wo ich einmal gelesen
habe, daß es in Frankreich ein Nonnenkloster gegeben, wo die
Nonnen verbunden waren, in ihren Särgen zu schlafen und in

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