< zurück Inhalt vor >
[ Band 1 Brief 96: Caroline an Humboldt [Erfurt], 19. November 1790, ]
die Urteile sind. Wir fanden den Mund gut, und Lili *) schreibt mir über Dein Bild — »um Augen und Stirn schwebt doch etwas von seinem Geiste, es wurde mir warm und wohl im Anschauen, aber der flache, verzogene, unbestimmte Mund verdirbt es wieder. Bill hat einen gar angenehmen Mund. Doch läßt sich immer etwas aus dem Bild nehmen, ein Anker für die Phantasie wenigstens.« Ach, wohl ein Anker für die Phantasie! Es macht mich doch sehr glücklich. Das Bildchen teilt manche Momente mit mir, denen jeder Ausdruck, selbst die Wonne lindernder Tränen versagt. So war mir gestern abend . . . . Wie ich die Stunde, der Gegenwart ganzes, lastendes Gefühl zu ertragen vermochte! O, es bringe mir kein Tag eine ähnliche — und doch — ich fühl es so oft, wie selbst der Moment, in dem mein Wesen bräche, noch erfüllt von dem Segen unsrer Liebe wäre! — Aber ich werde nicht unterliegen, ich kann nicht. Meine besten Kräfte, das, was allein mein Wesen ausmacht, ruht in Dir. In das allgemeine Leben der Natur kann das meine nur zurückfließen an Deinem Busen, meine Seele nur in Deiner Umarmung aus ihrer Hülle gelöst werden. Es ist keine Schwärmerei. Auf der lichten Höhe der Empfindung begegnet die ewige Wahrheit dein suchenden Blick und zerreißt die verhüllenden Schleier. Wir werden ewig in ein- ander leben. Wo dies Bedürfnis, das Bild des geliebten Gegen- standes immer reiner und vollkommener aufzufassen, um aus ihm jede aufstrebende Kraft des nach Veredlung dürstenden Geistes zu schöpfen, lebte wie in uns, wo das innerste Wesen sich hinzugeben vermochte, ehe noch in verschlossener Seele der Gegenwart süße Hoffnung keimte — o, da ist keine Täuschung! — Unser Geben und Empfangen muß im richtigen Verhältnis, in empfundenem Gleichgewicht stehen, wenn wir alles das sein sollen, wozu wir geschaffen sind. Wer wahr mit sich umgeht, wird sich das nie ——— *) Caroline v. Beulwitz. 289