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[ Band 1 Brief 94: Humboldt an Caroline [Berlin], Sonntag abend, 14. November 1790 ]
hatte, nicht entreißen wollen. Ich könnte eine solche Täuschung nicht unterhalten. Es gibt doch keinen Genuß ohne Gefühl der Wahrheit; nur ist es wohl kindisch, das hier anzuwenden, da der Getäuschte ja Gefühl der Wahrheit hat. Aber mir kommt’s immer so vor, als sei die Freude dessen, was wahr ist, doch immer höher, als die dessen, was wir nur dafür halten, selbst auf so lange, als die Täuschung währt. Es kommt nicht bloß, dünkt mich, auf unser Meinen und Glauben, sondern vor allem auf die Wirkung des Gegenstandes an, den wir empfinden. Indes tat das Carl. Seit einigen Monaten aber wurde er kälter und nachlässiger, und end- lich schrieb er einmal: »Ich bin von der Bühne abgetreten, nehme teil an allem, bin aber für mich nicht mehr interessiert.« Denke, wie Jette das auffaßte. Aber sie ist keines eigentlichen Schmerzes fähig. Sie tut einem wohl leid, weil sie leidet, aber es ist immer mehr Verdruß als Schmerz, und dieser Verdruß nie ohne sichtbares Streben, ihn bemerklich zu machen. Sie fragte mich um Rat. In die Sache selbst mocht ich mich nicht mischen, ich sagte, sie würde Carln nur nicht verstanden haben, hätte sie aber recht, und liebte Carl sie wirklich nicht, nun, so gäb es nur ein feines und edles Mittel, ungeliebt still zu lieben und zu dulden. Alles das nahm sie recht gut auf, schrieb aber Carln, gewiß nicht, ohne daß er merken mußte, wie es in ihr sei. Denn das kann sie gar nicht. Auch schrieb sie ihm, er möchte den Winter nicht herkommen. Ich versicherte zwar immer, es hätte ohnehin keine Gefahr, allein um- sonst, sie muß wirken, arrangieren, so geschah’s. Carl ließ den Brief bis heute unbeantwortet. Heute aber ist’s auch ein Paket, das auf einmal das halbe Verbindungsarchiv füllt. Ich sprach seitdem nicht mit ihr davon. Sage selbst, ist’s möglich, mit so ver- schieden empfindenden Menschen über so etwas zu reden? Schon, daß Carl nicht herkommen sollte! Ach! Li, hättest Du mich nicht geliebt, ewig hätt ich gerungen, Dich zu sehen und das glühende, 286