< zurück Inhalt vor >
[ Band 1 Brief 86: Humboldt an Caroline Berlin, [Datum fehlt] ]
weinen an Deinem Busen, auch im vereinten Leben, und wird selbst die Ursache der Tränen nicht ahnden. Aber laß mich. Solche Tränen sind Wonnen, die erst ein künftiges Dasein versteht, und in denen die arme Seele, wie sie jetzt sich fühlt, irr wird und nicht weiß, wie ihr ist, und doch sich so innig und tief gerührt fühlt. — Donnerstag abend Heute in Tegel sah ich einen Tintenfleck auf einem hübschen Tisch meiner Mutter und fragte danach. »Dein Vater hat ihn noch gemacht,« sagte sie mir, »ich habe schon so viel daran ge- waschen, aber er will nicht rausgehn.« Neulich einmal war der Tag, wo wir sonst den Geburtstag meines Vaters feierten. Ich erinnerte meine Mutter daran, und sie wußt es nicht mehr. Ich bin wohl ein Kind, etwas andres von den Menschen zu erwarten; aber es durchschauerte mich so schrecklich. Es geht mir überhaupt jetzt so. Wo ich so etwas Gemeines in solchem Verhältnis sehe, da wird mir so weh, da kann ich’s kaum tragen. Ich bin über- haupt sehr viel reizbarer geworden. Sonst konnt ich so mit jedem umgehen, und man merkte mir nie an, wie er auf mich wirkte. Jetzt wird’s mir gleich so unheimlich, und ich muß abbrechen und weggehn. Es war eine tötende Gleichgültigkeit in mir, so gar keine Erwartung und kein Bemühen, mir Freude zu machen, so ein bloßes Umtreiben und ein ewiges Studium. Denn die meisten Menschen und Dinge waren mir nur so weit lieb, als ich an ihnen lernen konnte. Sehr lang hätt ich die Stimmung nicht erduldet, denn, o nicht wahr, Li, natürlich war es mir doch nie, so kalt, so ungenießend, so nicht hoffend und nicht fürchtend zu sein? Aber lieb ist mir’s, daß es einmal so war, denn es gehört dieser Mangel alles eignen Interesses dazu, um sich durch den Anblick der Menschen zu bilden, und ich lernte viel dadurch. Auch die Billig- keit erhielt ich nur so, die mich zuerst Dir wert machte. Es freute mich so innig, daß gerade dieser Zug Dich für mich interessiert 258