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[ Band 1 Brief 74: Humboldt an Caroline [Berlin], Mittwoch abend, 22. Sept. 1790 ]
nicht heruntergekommen warst, weil ich Dich nicht verdiente. So kam ich auf die Straße, da las ich Deine Zeilen. Eine halbe Stunde danach kam ich vorbeigefahren und sah Dich noch am Fenster und grüßte Dich noch, und so mußt ich fort. Ich schrieb Dir dann von unterwegens. Aber, ich weiß selbst nicht recht, woran es lag, ich konnte Dir nie schreiben. Glühend, wie ich empfand, konnt ich und mocht ich Dir nicht schreiben, und wie ich Dir schreiben mußte, unsres Verhältnisses wegen, das war mir zu arm wieder. Ich hätte kälter schreiben mögen. Da mußte ich so oft Worte brauchen, bei denen ich ganz etwas anderes empfand, Worte, die nun, meinen Empfindungen heilig waren, mußt ich den Gefühlen leihen, die ich Dir sagen wollte, mußte, dacht ich. Ver- zeih mir — verzeih mir, Lina, daß ich nicht fühlte, nicht sah, wie es in Dir war, daß ich Dich nicht verstand. Aber so selten ver- nahm ich auch einen Laut Deines Wesens, Du verbargst die Wahr- heit Deiner Gefühle tief, nicht mit Absicht, aber weil sie tief aus dem Herzen gequollen waren, und daß Du mich liebtest, Du, die ich so hehr und groß, so liebenswürdig und schön erblickte, mich — wie ich mich dachte, davon nichts, ich denke mich ja anders, seit Du mich liebst. Du schickst mir das Kartenblatt doch gleich wieder? Und nicht wahr, Du küssest es? So möcht ich alles Dir schicken, was ich brauche, daß Du es wieder hast, daß Deine Lippen es heiligen. — Das macht mir die religiösen Zeremonien manchmal so lieb, daß sie lauter Äußerungen recht menschlicher, brünstiger Liebe sind — das Weihen, die Reliquien, das Seligwerden nicht durch Verdienst, nur durch Gnade und Buße — aber das macht sie mir auch so verhaßt, weil sie das zu Zeremonien gemacht haben. Doch viel verhaßter noch ist mir die Aufklärung, die das auch und gerade da ausrotten will, wo es wahres Gefühl ist. 225