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[   Band 1 Brief 72:    Humboldt an Caroline    [Berlin], Freitag früh 6 Uhr, 17. September 1790   ]


                                           Sonnabend, 18. September

Heute erst war ich bei Jetten und Brendel. Aber es war
nicht Nachlässigkeit von mir. Gestern hatten die Juden lange Nacht,
wo sie nicht besuchbar sind, und vorgestern war ich in Tegel. Ach!
so eine lange Nacht, liebe Li! Wenn ich so heraussah, und es
war noch so finster. — Aber ich muß Dir noch von Jetten erzählen.
Es ist doch ein sonderbares Weib, wirklich so kleinlich, von wenig
innerem Gehalte. Ich fühle das immer mehr und mehr, und es
tut mir leid, weil ich selbst empfinde, daß ich noch kälter und wirklich
verschlossen dadurch werde. Aber sie fordert auch so Vertraulichkeit,
und ich kann nicht von Dir mit ihr reden. Sie versteht einen doch
nicht, und ist gleich so fordernd, so anmaßend. Ich habe ihr also
fast nichts als so das gewöhnlichste von Dir gesagt, aber freilich
merkte ich auch wohl, daß es ihr gar nicht recht war. Sie spricht
aber auch wirklich entsetzliche Dinge von mir. Stell Dir nur vor,
neulich hat sie ganz positiv erzählt, wie ich eigentlich Dich nicht
liebte, sondern hier in Berlin eine ganz andere Verbindung hätte.
Ich schreibe Dir das, damit Du mich doch nicht tadelst, wenn ich
mich mehr von ihr zurückziehe. Denn sage, wie viel Schwachheit
gehört dazu, so etwas sich einzubilden und es dann erst zu erzählen,
und das von mir zu erzählen, für den sie doch noch immer Achtung
und Liebe haben will. Sie wird mir noch manche unangenehme
Stunde hier machen, und was mir das drückendste ist, so sind alle
ihre Schwächen doch von so einer Art Gutmütigkeit begleitet, um
die es einem manchmal leid tut. Und freilich verliert sie jetzt viel.
Auch Carl soll ihr häufig in geändertem Tone schreiben. Und wie
könnt es anders sein. Alle diese Verhältnisse waren erzwungen.
Was vergehen muß, vergeht. Es hat doch nichts Dauer, was nicht
in ungebundener Freiheit erst ledig nebeneinander existiert, eh es
sich umfaßt und zu ewiger Unzertrennlichkeit verknüpft. So war
es mit Dir und mir. Schweigend liebten wir uns lang und hätten

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