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[ Band 1 Brief 54: Caroline an Humboldt Burgörner, den 10. Juni 1790 ]
ewig neuen wechselnden Kreisen, und so wird mein ganzes Leben sein, ein unaufhörliches Wirken und Entwirren, Suchen, Finden und Wiedersuchen, und was das Ende? — Wenn es nicht das Glück irgend eines menschlichen Wesens ist, wessen es sei, aber das reine, dauernde, volle Glück, so ist verloren die Zeit, verloren das Streben nach Ruhe und Glückseligkeit. Aber wenn es das ist, dann werde ich vergessen, was in mir und um mich ist, vergessen, was mir fehlt und was mich drückt, glücklich sein, weil ich nicht in mir sein werde, selig wie ein segnender Gott, wenngleich ent- behrend wie der dürftigste Sterbliche.« — Ich hatte nicht bis zum Ende gelesen, es drängte sich in meinem Herzen bis zum Ersticken, mir flog eine Ahndung des rätselhaften Sinns dieses Briefes durch die Seele, und Tränen, wie ich sie nie geweint hatte, stürzten mir aus den Augen — meine Seele war in dem Zustand der unaus- sprechlichsten Ungewißheit. — »Nein,« rief ich oft vor mich allein aus, »nein, Wilhelm, um glücklich zu sein, sollst Du nicht vergessen, was in Dir ist und liegt, nicht einschlummern die Kräfte Deines Wesens.« Und dann wandte sich mein Herz zu dem ewig ord- nenden Verstand über uns, ach, und mein ganzes Gebet war immer nur: »Laß uns das Beste finden, denn das wollen wir.« Und wir haben es gefunden, nicht wahr, mein Wilhelm? O, ich fühle es an dem Ausdruck Deiner Seele, an jedem Wort Deines lieben Herzens, daß Du glücklich bist und das Gefühl des Glücks, das Du über mich ausgießest, voll in der Seele trägst. Und wenn ich frage, so verzeih — es ist eine Wiederholung, der man nicht müde wird — ewig neu und ewig dieselbe erscheint sie mir in unzähligen Gestalten, diese Liebe, und wie ich in ihr einzig den Zweck meines Daseins empfinde, muß ihn noch kein Wesen inniger empfunden haben. Dein zu sein, Dir anzugehören, alle Wahrheit meines Lebens nur zu nehmen aus Dir, o Wilhelm, welche süße dauernde 156