< zurück Inhalt vor >
[ Band 1 Brief 54: Caroline an Humboldt Burgörner, den 10. Juni 1790 ]
54. Caroline an Humboldt Burgörner, den 10. Juni 1790 Ich komme aus der Pappelallee, wo ich den ganzen Nach- mittag mit meinem Ossian und Werther gesessen habe. Wenn gar nichts mehr helfen, nichts mehr fruchten will, wenn mir meine Lieblingsbeschäftigungen widerstehen und meine Seele, in ungestümer Sehnsucht aus sich selbst gerissen, mir ent- flieht, so lindert das all ein einsamer Spaziergang — ja Natur, Du lösest das irre Gewebe in mir, und mein Herz atmet sich aus an Deinem Busen wie an dem Busen eines Freundes! — O mit welchen Empfindungen hab ich sie wiedergesehen, diese liebe Gegend, in der ich keinen Schritt fast tun kann, ohne daß sich nicht süße und bange Erinnerungen der Vergangenheit in meine Seele drängten; ich war in der Laube, die ich nicht wieder betreten hatte seitdem Morgen meiner Reise nach Lauchstädt, und es war mir, als vernähme ich da noch einen Laut von Euch — in welchem sonderbaren Zustand verließen wir uns doch damals! — in welcher Verwirrung — o es ist mir so klar, wie nur die Zeit alles freundlich ausreift, und wie so gut es ist, daß nichts gebrochen werde, ehe es reif ist, unsre Trennung war uns gewiß wohltätig, so weh sie uns auch tat. Wenn die Seele nicht in so regen, heißen Gefühlen der Gegen- wart versunken ist, wird sie sich selbst erst klar, lernt sich erst ganz selbst verstehen — so war’s mir damals im ruhigen Zusammensein mit Caroline, aus deren schönem Wesen mir meine eignen Emp- findungen lautrer und schöner zurücktönen. Eines schmerzlich süßen, eines der unerklärbarsten Momente meines Lebens in Lauchstädt werd ich mich immer erinnern, als Dein erster Brief kam. Wir saßen zusammen, Carl, Caroline und ich. Sie fing an zu lesen und bat mich, fortzufahren. Ich kam an die Stelle »ich werde nun Örter sehen und Gegenden und Menschen, werde sprechen, hören, schreiben, mich herumdrehen in 155