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[   Band 1 Brief 22:    Humboldt an Caroline    [Berlin], den 29. Januar 1790   ]


wärtigen oder künftigen Genusses. Was wir einander waren, ist
uns zu viel, ist zu bleibend, als daß wir uns ängstlich nach dem
sehnen sollten, was wir uns sein könnten. Nur in der Freundschaft
ist das so möglich und nur da beseligend. Die Liebe fordert und gibt
mehr. Aber unsre Empfindungen sind so rein, beruhen so bloß auf
dem, was wir einander sind, daß die größesten Dinge, die wir uns
leisteten — er rettete mir einmal das Leben in der gewissesten
Überzeugnng, das seine zu verlieren — sie nicht änderten, nicht er-
höhten, kaum Eindruck auf uns machten. Wir fühlten zu unmittel-
bar, zu voll aneinander die Quelle, woraus so eine Aufopferung
fließen konnte, als daß wir die Aufopferung selbst hätten in dem
Grade schätzen können.
Grüße unsre Caroline herzlich. Ich liebe sie unendlich. Ich
kann mich nicht von der Hoffnung trennen, daß sie mit uns leben
muß. Dann erst wären wir ganz glücklich.
Der Einfall über Carl ist vortrefflich, so wenig ich auch von
den Plänen, ihn zu verheiraten, halte. Ehestandstalent hat er offen-
bar, nun müßte sich eben so ein Ehestandstalent zu ihm gesellen,
sonst fürchte ich sehr, möchte sich die Frau einen minder talent-
vollen Mann wünschen. — Ernstlich glaub ich, ist es äußerst
schwer, ein Weib für Carl zu finden.
Zur vollen Befriedigung bedarf eine Seele wie die seine un-
endlich viel, und sollte er dann in diesem Verhältnis auch in eben
dem Grade beglücken, so gehörte ein eigener Charakter des Weibes
dazu. Wenn ich sonst mich und ihn im Verhältnis zu Dir verglich,
so dacht ich mir immer unendlich mehr Genuß für Dich bei ihm —
ich traute mir nie zu, daß ich etwas geben könnte — aber Ruhe,
ungetrübte Heiterkeit, zufriedenen Lebensgenuß, ungleich mehr bei mir.
Meinem Gefühl nach muß dem individuellen Leben eines
jeden jede, auch die nächste, innigste Verbindung untergeordnet
sein, oder vielmehr die nächste Verbindung wird sich innigst darin

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