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[   Band 1 Brief 20:    Humboldt an Caroline    [Berlin, zwischen dem 15. und 29. Januar 1790]   ]


sucht so viel Vergnügen als möglich, findet sehr wenig und ist redu-
ziert, jeden Mann für ein besseres Schicksal zu halten, als diese
Lage. Sie wird von meiner Mutter, wenigstens par boutade,
gehaßt, die Tante verachtet. Mein Onkel leidet am genossenen
Vergnügen, verzweifelt, noch durch seine schöne Gestalt zu reizen,
versäumt also, sich und seine Kleider von heterogenen Partikeln
zu säubern, und wird dadurch ein äußerst angenehmer Tisch-
gesellschafter, sobald es einem daran liegt, keinen Appetit zu
haben, weiß alle Stadtneuigkeiten, erzählt sie ewig und läßt sich
ewig von Maman sagen, daß sie nicht wahr sind. Mein ältester
Bruder *) schmeichelt Kunth und Maman, entschädigt sich für die
Langeweile am Tage durch kleine Partien des Abends, ist leer,
undelikat, hängt aber mit Leib und Seele an mir, weil ich ehr-
licher mit ihm umgehe als Kunth und ihm hie und da einen
kleinen Vorteil verschaffe.
Da hast Du das Porträt des Familienennuis. Ich nehme
mich so gut ich kann, lebe mit allen so wenig als möglich, gebe
jedem so viel Recht als möglich ist, ohne dem andern Unrecht zu
geben, gehe meinen eigenen Weg und suche es einzig dahin zu
bringen, daß alle mich achten und mir zu nahe zu kommen sich
fürchten. Mit meiner Mutter steh ich sehr gut. Ich habe mich nie
auch nur durch eine Bitte in Abhängigkeit von ihr gesetzt. Alle
ihre Wünsche gehen dahin, mich in Konnexionen, in Amt und An-
sehen zu sehen. So stimmen unsere Absichten überein, und sie ist
also mit meinen Maßregeln zufrieden. So schrecklich fremd mir
also auch die Menschen sind, so siehst Du doch, daß ich ganz gut
mit ihnen leben kann.
Von Dir wurde drei- oder viermal schon gesprochen. Kunth
hab ich nie ein Mädchen so loben hören als Dich. Meine Mutter

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*) v. Holwede, aus Frau v. Humboldts erster Ehe.
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