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[   Band 1 Brief 15:    Humboldt an die Verbündeten   Paris, 4. August 1789   ]


— Ich war neulich in einer Kirche. Ein schlichter, gerader Säulen-
gang. Im Hintergrunde eine weite Kuppel, von gleichen Säulen
getragen. In dem Ganzen eine so hohe, edle Einfalt. Ich stand
da, in meine innersten Gefühle versenkt. Es war mir, als wär
ich allem Irdischen entrückt, als fühlt ich mich nahe dem Ideal
aller Schönheit und Wahrheit und Güte. »Beglücke Lina!« — rief
ich auf einmal bei mir aus. Es war mein erstes Gebet seit langer,
langer Zeit, das frömmste meines Lebens. — Und wenn ich eine
schöne Maria sehe, wie Du da Zug vor Zug vor mir dastehest,
Lina. Auch in Deinem Auge ist der Ausdruck allumfassender
Liebe, himmlisch reiner Unschuld, mit Wehmut gemischten Ent-
zückens. Vor wenigen Tagen sah ich eine Maria von Rubens.
Eine Wolke trug sie zum Himmel. O das Auge! Man sah es
ihm an, die Seele der Verklärten vermochte nicht zu fassen die
Fülle des Entzückens, der Liebe, der Dankbarkeit, neu vereint zu
werden mit dem Urquell alles reinen geistigen Genusses. — —
Aber ich schweife aus, ich schreibe so verwirrt, laßt mich morgen
fortfahren. Gute Nacht!
Ich blieb noch, wie Ihr wißt, mit Carl den Morgen, als
Ihr weggingt, die Trennung von Euch setzte uns in eine andre als
die gewöhnliche Stimmung, was bis dahin still und schweigend in
uns gelegen hatte, riß sich los, wir gossen unsre Seelen gegenein-
ander aus. Lina, wir können nicht wieder so lieben mit dem
grenzenlosen, unaussprechlichen Gefühle, mit dem wir Dich lieben.
Dein Glück, Deine Ruhe ist die einzige unsrer Sorgen, und
glaube nicht, daß der aufopfert, der dafür etwas entbehrt. Wahre
Liebe kennt keine Aufopferung. Nur kleine, kalte Seelen nennen
es Aufopferung, wenn man eignen Genuß hingibt, um andern
ihn zu verschaffen, weil sie die Wonne dieses Verschaffens
nicht kennen, nicht fühlen, daß dagegen das Hingeben —
Empfangen ist.

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