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[ Band 1 Brief 13: Humboldt an Caroline Göttingen, 22. Mai 1789 ]
fester, bestimmter, ausgebildeter sein wird, wie wir so nah auf die himmlische Wonne ewiger Vereinigung hinblicken werden. Das höhere Alter war von jeher ein Gegenstand meiner sehn- lichsten Wünsche. Man nennt mit Unrecht das Alter des Greises das Alter der Untätigkeit. Der Wirkungskreis mag enger, ein- geschränkter sein, aber vielleicht ist er auch schöner, vielleicht ist das Gute auch reiner, das Gute, das man wirkt und das man genießt, und vor allem der Rückblick in die Vergangenheit, die nahe Aus- sicht auf die Zukunft hin! — 30. Mai Ich konnte diesen Brief nicht weiter schreiben, Lina, ich mußte bis heute abbrechen. Aber rate nur, wo ich bin? In einer wilden, schönen, romantischen Gegend, mitten in Felsen und dicken Wäldern. Ich bin aufs Land gezogen, ich konnte es in der Stadt, wo ich gerade jetzt in den Ferien nichts zu tun hatte, nicht länger aus- halten; zu verreisen hinderten mich meine Arbeiten. So bin ich auf ein Dorf eine Meile von Göttingen gezogen. In Göttingen weiß niemand, wo ich bin; so bin ich ungestört allein, mit mir und mit Euch. Nie faßt meine Seele das Bild meiner Lieben so rein und klar, als wo in schöner Natur ringsum alles Liebe und Milde atmet. Lange konnt ich mir Eure herrlichen Wesen nicht so schön und einfach denken, als hier, wenn ich abends auf dem Gipfel eines hohen Berges sitze und die weiten Ebenen, den dickbelaubten Wald und die herumliegenden Turmspitzen der be- nachbarten Dörfer überschaue, oder wenn ich in den Ruinen der zerfallenen Gleichen stehe und das Gefühl des Wechsels und des Vergehens mit seiner ganzen Kraft mich ergreift. Ich habe außer meiner gewöhnlichen Arbeit nur wenig Bücher bei mir, ein paar philosophische von Jacobi und Hemsterhuis*) und den Werther. Werther las ich diesen Winter zum erstenmal. Ich ———— *) Holländischer Philosoph 1721—1790. 40