< zurück Inhalt vor >
[ Band 1 Brief 13: Humboldt an Caroline Göttingen, 22. Mai 1789 ]
fand ihn einen Abend auf dem Tisch eines meiner Freunde, und ich konnte nicht aufhören, bis ich am Morgen damit fertig war. O! Lina, welch ein Buch! Nicht sowohl seine Liebe, seine daraus entspringende Melancholie, seine Verzweiflung, überhaupt nicht sowohl Teilnahme an seinem Schicksal reißt mich so hin, aber die Fülle der Empfindung und der Ideen, mit der er alle Gegenstände umfaßt, die Bemerkungen über Menschen, Leben, Schicksal, die herrlichen Naturbeschreibungen, die Wahrheit, die so gerade, ohne Umweg ans Herz geht, und dann die unnachahmliche Darstellung, die meisterhafte Zeichnung des Charakters bis in seine kleinsten Züge hinein, die Sprache so wahr, so einfach, so eingreifend, so bezaubernd. Mehr als alles haben mich die Kinderszenen gerührt. Es ist so viel Einfachheit, Unschuld, Reinheit der Seele darin, so gar nichts Verstimmtes, Überspanntes, Verdrehtes. Aber ich muß die erste Ausgabe lesen. Weißt Du noch, wie Du mir sagtest, Du wärest Goethens eigener Meinung? Eine veränderte Ausgabe wirke immer weniger als die erste. Verzeihe die lange Stelle über ein so bekanntes, so oft beurteiltes Buch. Aber mir war’s neu, und es freut mich, daß es mir neu war. Ich hätt es verschlungen, wäre mir’s früher in die Hände gefallen. Nun hab ich’s ge- nossen. Und überhaupt ist’s mir lieb, daß meine Empfindungen, mein Gefühl für Freundschaft, für Liebe, für Seelenvereinigung überhaupt so gar keine Richtung durch Bücher bekam, daß mich darin allein Umgang und eigene Erfahrung bildete. Es ist nun nicht gewaltsam von außen auf mich gewirkt, meinen Gefühlen nichts Fremdes untergeschoben oder beigemischt worden. Ich bin darin so, wie die Natur mich bestimmte zu sein. Ich las über- haupt wenig; wenige Leute meines Alters, die ungefähr eben den Gang gingen als ich, werden so wenig gelesen haben. Aber ich freue mich darüber. Ich habe mehr gedacht, weniger Wert auf fremde Ideen, allein auf Erfahrung zu legen gelernt, und ich bin 41