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[ Band 1 Brief 13: Humboldt an Caroline Göttingen, 22. Mai 1789 ]
13. Humboldt an Caroline Göttingen, 22. Mai 1789 Ich las eben Deinen Brief wieder, und mein ganzes Wesen ist in Erinnerungen aufgelöst an die Tage, da ich Dich sah. O! wie es mich so oft ergreift, dies süße Angedenken, wie es mich dann mit banger Wehmut erfüllt, wie mein Herz sehnsuchtsvoll dem Tage entgegenschlägt, da meine Arme Dich wieder umschließen! Wann kommt er, der frohe Tag? Wann sehe ich Dich in Deiner Laube? wann empfang ich, traute, holde Liebe, auf Deinen Lippen den Lohn des langen Entbehrens? Sage, begreifst Du es, wie ich’s mir versagen kann, Dich in Lauchstädt zu sehen? Ach! es erfordert alle Kraft, alles Wider- stehn meiner Seele, aber wen Du liebst, sollte dem es an Kraft gebrechen? Nein, ich muß Deiner wert sein, muß, wie Du, so viel Stärke der Seele mit so viel Sanftheit vereinen, und wie viel ich entbehre, dies Entbehren trägt hohen Gewinn in sich. Traure also auch Du nicht darum, Seelen, die sich lieben, erheben immer ihre Gegenwart, und es ist ein großer, lohnender Gedanke, sich auch die höchste Freude um des größern Guten willen zu versagen. Du sahst in diesen Tagen, Li, einen Menschen bei Dir, der Dich gewiß sehr lebhaft an mich erinnerte. Ich meine Kunth. O! Lina, was der Name für Bewegungen in mir erregt, so oft ich ihn nur aussprechen höre, kannst Du nicht glauben. Er er- innert mich an Szenen, deren Andenken mich ewig erschüttern wird. Er leitete meine ganze Kindheit. Wie ich jetzt bin, so ward ich, nicht durch ihn, aber bei ihm, auf seine Veranlassung. Wenn Du den ganzen Gang meiner Begegnisse wüßtest, wenn Du alle die Schritte sähest, die ich durchwandern mußte, alle die Lagen, die mich endlich zu dem sonderbaren Gemische guter und böser Eigen- schaften, froher und kummervoller Empfindungen machten, das ich jetzt bin, gewiß, Du würdest Deinen Wilhelm bedauern und den 38