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[ Band 1 Brief 6: Humboldt an Caroline [Erfurt], 2. Januar 1789 ]
6. Humboldt an Caroline [Erfurt], 2. Januar 1789 Noch zwei Stunden, liebe Li, und ich bin bei Dir! Gott, mit welchen Empfindungen seh ich Dich wieder. Mehr als fünf Monate sind’s, seit ich Dich nicht sah, und indes sah ich keinen von Euch, war in mancher kummervollen, drückenden Lage, genoß der wahren Freuden nur wenige. Aber doch fühlt ich mich nicht unglücklich; auch die Stunden des Kummers, des Unmuts, der langen Weile sind nicht verloren. Sie ziehen den Geist in sich zurück, machen, daß er in sich fort in unermüdeter Tätigkeit denkt, arbeitet und sich immer mehr und von neuen Seiten ausbildet. Und auf Bildung unserer selbst kommt es doch allein an, wenn sie allein auch nicht glücklich macht, so ist sie doch alles Glücks erste Bedingung. Stimmt der Gang der Welt außer uns nicht mit unsern Wünschen überein, so bleibt uns noch die Welt in uns, es bleibt uns Erinnerung an die Freuden, die wir genossen, es bleibt uns das Bewußtsein, wie jede Lage, die fröhliche und die traurige, dazu beitrug, uns zu dem zu machen, was wir sind, und es bleibt uns endlich Kraft, durch neue Tätigkeit auch die Verbindung von Umständen, die das Schicksal jetzt um uns kettet, zu neuem Guten für uns und für andre zu benutzen. Glaube mir, meine teure, geliebte Li, jedes Verhältnis, in das wir geworfen werden, ist gut, einmal weil der es ordnete, der nur Gutes ordnet, und gut dann, weil es Bereicherung durch neue Er- fahrung, Gewöhnung an neues Leiden, Anlaß zu neuer Tätigkeit ist. Drum wenn ich nur nicht müde werde, immerfort und ununter- brochen hinblickend auf den größesten Nutzen, den ich in meinem Wirkungskreis stiften kann, tätig zu sein und zu arbeiten; so fürcht ich mich nicht vor den Schlägen des Schicksals. Viel mußte ich erfahren, viel dulden, ehe ich auf den Grundsatz kam, den Deine Caroline so schön ausdrückt: "Für den, der sein Glück im Genießen 12