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[ Band 7 Brief 105: Caroline an Humboldt Berlin, 6. Dezember 1823 ]
Du liesest in Deiner Einsamkeit den Aristoteles? Es ist, glaube ich, ziemlich der einzige alte Schriftsteller, von dem ich nur eine einzige Rede einmal gehört. Mich dünkt, du hast mir einmal eine frei übersetzend vorgelesen. Gibt es keine gute Übersetzung von ihm? Was Du über Goethe sagst, ist sehr wahr, und beim ersten Denken daran scheint es einem gleichsam unerklärbar, wie er eigentlich nur allein in seinem Alter, so nah dem Abend, so tief eigentlich schon hineingelebt, nur mit der Gegenwart sich beschäftigt. Allein ahnden kann ich doch, wie sie für ihn eine gewaltigere Göttin ist wie für viele andere Naturen, und wie das gerade zusammen- hängt mit dem Menschlichen in ihm, wodurch er die tiefen, rüh- renden, ergreifenden Anklänge in anderer Menschenbrust nicht ver- fehlt. Die Substanzen, aus denen das Innere im Menschen ge- mischt ist, das Gemüt, mit dem man doch wohl am meisten andere bewegt, mag so verschieden sein wie die Physiognomien. Stirn, Augen, Nase, Mund und Wangen und Kinn hat ein jedes Ge- sicht, und doch welche ungeheure, nie sich erschöpfende Verschiedenheit! Gestern sah ich den »Don Carlos«. Der Marquis von Posa, die Prinzessin Eboli wurden sehr gut, die Königin, der Prinz nur mäßig gut gespielt. Der König eigentlich schlecht, und doch verfehlte das Stück seine Wirkung nicht. Es ist eine andere Welt, in die man gehoben wird. Gemeine Naturen werden wahr- scheinlich finden, daß Posa ein affektierter Charakter ist. Wer aber den Dichter begreift, wird den Widerschein seines inneren Sonnenscheins, die Glorie seines Geistes erkennen, die rein in diesem Posa strahlt. Im Stück sind Ungeziemlichkeiten. Doch muß man in dem, der diese Charaktere schuf, den göttlichen Ursprung erkennen. So geht’s mir mit dem Dichter, so auch mit dem bil- denden Künstler. Keine der wahrhaft großen oder tief menschlich rührenden Kompositionen des unsterblichen Rafael kann ich sehen, ohne daß ich nicht an ihn denken muß. Welche Fülle der Selig- 203