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[   Band 7 Brief 104:    Humboldt an Caroline    Burgörner, 1. Dezember 1823   ]


freien Blick in die weite Natur machen kann. Auch gehe ich sehr
viel hier, aber ohne mich zu ermüden. Ich habe nichts von
trockenen und mühevollen Studien hierher mitgenommen. Die wenigen
Stunden, die mir von der Geschäftsschreiberei und dem Spazieren-
gehen, Leutesprechen usf. bleiben, lese ich fast bloß die Ethik des
Aristoteles und den »Bhagavad Gitâ«, den Schlegel herausgegeben
hat. Beide behandeln eigentlich dasselbe Thema, den Zweck aller
Dinge, den Wert des Lebens, das höchste Gut, den Tod als den
Anfang eines neuen Daseins. Im Aristoteles ist die Erhabenheit
eines großen und beinah ungeheuren Geistes und der gebildetsten
Nation des Erdbodens, in dem indischen Gedicht die vielleicht noch
rührendere des höchsten Altertums und eines zu tiefsinniger Be-
trachtung gleichsam geschaffenen Volks. Ich lese von beiden eigent-
lich immer nur wenig, aber jeder Laut ergreift mich mit einer zum
eigenen Nachdenken anregenden Stärke. Es fällt mir dabei oft
ein, daß es doch eigentlich sonderbar ist, daß Goethe so fast aus-
schließend in den Produkten der Zeit lebt und an dem hängt, was
er seine Arbeit in seinen Heften nennt, was doch wieder nur eine
für die neueste Zeit ist. Wenn ich mich meinem Hinscheiden so
nahe glauben müßte wie er, seinem Alter und seiner Gesundheit
nach, wäre mir das unmöglich. Ich ginge vielmehr dann nur in
die Vorzeit zurück und suchte dasjenige um mich zu sammeln, worin
sich die menschliche Natur am reinsten und einfachsten ausge-
sprochen hat.
Du wirst jetzt leicht mehr von ihm erfahren als ich. Selbst
wenn ich Carolinen regelmäßig darum schriebe, würde es nicht eigent-
lich helfen. Man erfährt immer nur in Weimar die Relationen
des Bedienten oder die Räsonnements der Ärzte. Wer ihn nicht
selbst sieht, kann nicht genau urteilen, und Caroline sieht ihn gar
nicht. Sie sind eigentlich auseinandergekommen, und sie urteilt bis-
weilen über seinen Charakter und sein Benehmen mit einer Strenge,

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