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[   Band 7 Brief 100:    Humboldt an Caroline    Rudolstadt, 21. November 1823   ]


Bei der chère mère habe ich nach der Tafel Kaffee getrunken.
Die chère mère ist im 80. Jahre aber noch rüstig im Gehen und
Sprechen. Sie steigt sogar noch die hohe Schloßtreppe. Sie hatte
eine kindische Freude, mich zu sehen, und sagt Dir und Carolinen
und Gabrielen tausend Liebes. Die Lebensgeschichte und Ver-
heiratung der Kinder habe ich heute unendlich oft erzählen müssen.
Ich sagte Dir, glaube ich, noch nichts von Schadows Ma-
donna. Der Großherzog, der sie gekauft, liebt sie sehr. Sie stand
einige Tage auf einer Staffelei im Versammlungssaal des Schlosses,
und alle waren damit zufrieden. Auch Goethen wurde sie geschickt.
Öffentlich und gegen den Großherzog lobt er sie sehr: »Artig, reinlich,
nett, sauber, lieblich, anmutig,« und wie alle seine »Artigkeitswörter«
heißen. Unter vier Augen hat er mir aber seine Theorie über
diese Art Bilder auseinandergesetzt. Er teilt alle Bilder in die
ein, die zur Bilderwelt, und die, welche zur Natur gehören. Bei
den ersten hat der Maler nur andere Bilder vor Augen gehabt,
bei den letzten die wahre, volle und doch idealische Natur. Dies
Bild rechnet er zu den ersten. Die Madonna sei keine Mutter,
keine Amme, keine Wärterin, sondern eben eine Madonna, wie man
sie so gemalt zu finden pflege usf. Giotto und Cimabue hätten
wirklich die Natur ergriffen, da ihre Vorgänger nur Byzantinische
Bilder nachgemacht hätten. Unter ihren Nachfolgern sei wieder
viel von dieser Malerei nach Bildern gewesen. Rafael habe zu-
erst wieder die Natur ergriffen, darum müsse man aber nun nicht
die vor ihm, sondern ihn nachahmende zum Muster nehmen.
Van Eyck ist ihm auch einer, der bloß nach Bildern gemalt
hat. Es scheint mir darin viel Vorurteil zu sein, und ein Teil da-
von liegt auch darin, daß er eigentlich Haß auf alle christlichen
Sujets, besonders auf Madonnen hat. Über diese seine Ansicht
des Christentums schreibe ich Dir ein andermal mehr. Heute ist
es mir zu spät, da ich um 5 ausgefahren bin.

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