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[   Band 6 Brief 239:    Humboldt an Caroline    Berlin, 5. September 1819   ]


Die Personen, die Handlung sind dem nur so untergelegt. Nach
dem großen Ziel, eine wahrhaft tragische Begebenheit in Ver-
bindung mit dem waltenden Schicksal hinzustellen, ist nicht einmal
gestrebt. Was das Stück an Effekt und wirklich an innerem
Wert besitzt, ist einzig und allein das Verdienst des wirklich sehr
genievollen Menschen, der es dichtete, der unter allen Deutschen in
den Stücken des Kopfes und Verstandes immer sehr einzig da-
stehen wird. Unter anderen Händen wäre es in dieser Manier
fast unter das Gemeine herabgesunken. Was bloßer Verstand,
Witz und eine lebendige, aber kalte Phantasie wirklich in einer
Tragödie vermögen, ist auf einen bewunderungswürdigen Grad
darin gezeigt.


240. Humboldt an Caroline                     Berlin, 8. September 1819

Ich mochte Dir in meinem neulichen Brief, der durch die
Post ging, nicht viel über meinen letzten Besuch in
Glienicke sprechen. Der Staatskanzler war so freundlich
und sanft wie immer und ich habe, ohne viel mit ihm zu streiten,
ihn so eine Stunde lang gehen und sprechen lassen wie er wollte.
Ich habe bei der Gelegenheit gesehen, daß er wirklich vorzüglich
darin die Schwäche des Alters besitzt, daß er gar nicht die Wichtig-
keit und das Dringende der Dinge einsieht, sondern sich in der
Tat einbildet, daß er die Dinge immer den langsamen Gang gehen
lassen kann, den er nach seiner Weise nimmt, ohne fürchten zu
müssen, daß der rasche, den sie selbst nehmen, ihn überflügelt. Ich
versichere Dir, daß ich Beispiele davon gehabt habe in diesem Ge-
spräch, die mir eine Art Grauen erweckt haben. Ebenso geht es
ihm auch in einer anderen Art noch. Er sieht nämlich wohl die

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