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[   Band 6 Brief 226:    Humboldt an Caroline    Berlin, 30. Julius 1819   ]


hatte, tadelte er auch. Dann setzte er hinzu: »Und die ewigen
Madonnen!« Hierin liegt es nun eigentlich. Die eingewurzelte
Abneigung gegen das Christentum in ihm macht ihm diese ganze
Richtung verhaßt, und vermutlich hält er auch das Suchen und
Auffinden der höchsten Kunst in den Zeiten vor Raffael für
einen kränkelnden Geschmack, ob er sich gleich darüber nicht aus-
sprach. Von dem wohltätigen Einfluß, den Deine Anwesenheit
in Rom auf die Künstler ausgeübt hat, sprach er unaufgefordert
mit großer Lebendigkeit. Aus ein paar kleinen Zügen sehe ich
auch, wieviel Zeit er so mit Sammlungen und Aufzeichnungen
zubringen muß, die eigentlich weiter gar keinen Wert haben. So
erzählte er mir, er habe gerade an demselben Tag in seinem Tage-
buch von 1810 gefunden, daß ich damals bei ihm gewesen sei.
Er wußte gar nichts diesmal von meinem Kommen und mußte
also nur dies Tagebuch von selbst studiert haben. Um ein Ge-
witter, das einige Tage vorher in Weimar und Jena gewesen war,
war er so intriguirt, daß er mich lange ausfragte, ob ich nichts
davon bemerkt hätte, und ließ am Ende auch sein Tagebuch kommen,
um Tag und Stunde genau zu bezeichnen. Über die äußeren
politischen Dinge habe ich ihn sehr gut gefunden; gegen keine Seite
erbittert; er scheint das eigentlich ganz beiseite liegen zu lassen,
ohne sich darum zu bekümmern, was bei seiner Denkart und in
seiner Lage gewiß das Vernünftigste ist.
Da man nach altem Gebrauch bei ihm immer zu Abend essen
muß, so war beim Essen sein Sohn *), seine Schwiegertochter und
deren Schwester. Die erste ist nicht hübsch, gefiel mir aber mehr
als die andere, obgleich diese hübscher, nur sehr dick ist. Die Kinder
waren entzückt über Berlin, wo sie gewesen waren, und lobten alles.
Ich höre hier, daß man sie sehr fetiert hat. Allein einen ordent-

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*) August v. Goethe, geb. 1789, † 1830, vermählt 1817 mit Ottilie
v. Pogwisch.

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