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[ Band 6 Brief 181: Humboldt an Caroline Frankfurt, 19. Februar 1819 ]
kannt hat, als daß man damit fortgeht. Der Eindruck bleibt doch, wenn auch die Sache verschwindet, und es ist immer ein dauernder Gewinn, wenn man eine Eigentümlichkeit des menschlichen Daseins, wie die Antike es ist, einmal voll und lebendig empfunden hat, was ohne eigenes Hören und Verstehen der individuellen Laute nicht möglich ist. Es gleicht einer Reise, die man in ein fernes Land gemacht hat und die man ja auch nicht immer zu wiederholen braucht. Alle toten Sprachen bleiben immer ein Studium, das be- ständig fortgetrieben und bis in seine Kleinigkeiten und Trocken- heiten verfolgt sein will. Zu dieser Schwierigkeit kommen hernach noch die, welche die fragmentarische und verdorbene Natur der auf uns gekommenen Überbleibsel hinzufügt. Ohne ein solches anhal- tendes Studium, zu dem doch eine Frau selten Neigung und rechte Gelegenheit hat, ist wirklich nichts möglich, als sich auf einen größeren oder engeren Kreis von Schriftstellern zu beschränken und die immer wieder zu lesen. Dann erreicht man aber auch alles. Denn dann dringt man vom einzelnen in die Stimmung und den Ton ein und entbehrt durch Mangel eines weitläuftigen Studiums bloß den Vorteil, diesen Kreis auch verlassen und auf jeden an- deren Schriftsteller übergehen zu können. Selbst von der Schön- heit und Gestalt der Sprache, die, unabhängig von allen Schrift- stellern zu verstehen und zu fassen, einer der größten intellektuellen Genüsse ist, geht durch oft wiederholte Lesung weniger Schriftsteller immer sehr viel über. So wäre es vielleicht gar keine üble Me- thode, bloß die schönsten Stellen im Homer sich durch Erklärung eines anderen recht in ihrem eigentlichsten Sinn einzuprägen, und nun zu anderem im Homer selbst, wie die Lust durch jene geweckt wird, fortzugehen. Du hast wirklich unglaublich viel Griechisch ge- lesen, im Grunde alle wahrhaft schönen Schriftsteller im Original, allein es ist gerade darin vielleicht gefehlt worden, daß, wenn Du so viel lesen wolltest, Du hättest mehr für Dich Grammatik und 487