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[ Band 6 Brief 100: Humboldt an Caroline London, 10. Julius 1818 ]
mehr Eindruck macht und mehr Wirkung hervorbringt als die unmittelbar aber auf unrechtem Wege auf Schönheit, Leben und Bewegung ausgehende. Man darf, um dies zu finden, nur ägyp- tische Skulptur mit ganz moderner, wie z. B. Bernini vergleichen. Daher hat man auch sehr unrecht, wenn man sagt, daß die Kunst von der Nachahmung der Natur ausgeht, man könnte richtiger sagen, daß sie von der Mathematik, als der Urharmonie der Ge- stalten, ausginge. Der Künstlersinn muß von diesem reinen Sinn für Gestalt und Eurhythmie anfangen, sich durch die Natur bis zu dieser durcharbeiten und dann freilich, indem er der Natur immer treu bleibt oder vielmehr ihr erst so recht treu wird, diesen Sinn wieder in seinem Werk ausdrücken. In den griechischen Bildwerken ist dieser Sinn äußerst sichtbar. Denn sowohl in den einzelnen Figuren als in den Gruppen ist immer wieder darauf gesehen, daß die Umrisse, auch da, wo sie für die Organisation bedeutungslos sind, doch angenehme Mannigfaltigkeit und Verhältnisse geben, und in den Figuren selbst ist weit mehr auf Schärfe und Bestimmtheit als auf Reiz gesehen, weit weniger Härte als Unbestimmtheit geflohen. Wirklich kann man darin die ägyptische Kunst wahrhaft als die Grundlage ansehen, wenn sie es auch historisch gar nicht gewesen sein sollte. Der Ausdruck des Geistigen bezieht sich in der Kunst immer auch auf die Gestalt, soll nicht gerade diese oder jene bestimmte Gesinnung, wo vom Idealischen die Rede ist, aus- drücken, sondern mehr allgemeine Eigenschaften, Klarheit, Reinheit, Kraft, Güte usf. Dieser innere von der Natur gegebene Sinn unterscheidet nun die Nationen, welche bestimmt sind, Kunstwerke hervorzubringen, und die, welche ewig nur Unholde machen. Die Natur vor den Augen beider ist dieselbe, aber die einen tragen etwas in sie oder sehen es in ihr, was den andern schlechterdings fremd bleibt. In den Mißgeburten der Chinesen, Indier, Mexi- kaner ist immer eine gewisse Naturansehung sichtbar. Aber es ist, 244