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[ Band 6 Brief 100: Humboldt an Caroline London, 10. Julius 1818 ]
wundet oder getötet ist, nicht, wie bei Vorstellungen von Männer- kämpfen, noch Erbitterung und Wut im Sterben fortdauert, sondern gleich Wehmut und Mitleid an die Stelle tritt. Da ich jetzt so oft und so lange bei diesen Kunstwerken bin, die, ohne irgend andere als menschliche Gegenstände geben zu wollen, doch einen höchst idealischen Charakter an sich tragen, so habe ich mehr darauf achtgegeben, worin dies Idealische der Kunst liegt. Winckelmann *), der es immer eigentlich im Gegenstande sucht, in einer Veredlung der menschlichen Form, einer Erweiterung der Züge, einer geringeren Andeutung der Muskeln, einer Weglassung gewisser Details, wie z. B. der Adern, verliert sich, dünkt mich, in etwas, das teils unmöglich wäre, teils als vage und unbestimmt aus der Kunst herausgehen würde. Auch hat der wunderschöne Torso des Neptun vom Fronton des Parthenon sehr deutliche Adern, und es ist überhaupt merkwürdig, wie auch an den Pferden überall sorgfältig die Adern angedeutet sind. Mir scheint vielmehr dies Idealische darin zu liegen, daß man bei einem Kunstwerk, was nicht dahin gelangt, einen unbestimmten, verwirrenden Eindruck einer Menge nirgends recht zusammenstimmender Einzelheiten erhält, hingegen bei einem wahrhaft idealischen durch alle diese hindurch unmittelbar auf die wesentlichen Eigenschaften des organischen Baues, und sogar, wo das Höchste erreicht ist, auf die Eurhythmie der Umrisse selbst geführt, oder vielmehr von beiden, wie von einem elektrischen Schlage, in einer übrigens ganz individuellen Figur getroffen wird. Denn, daß es ebenso ein Gefallen an den Ver- hältnissen auch der ganz bedeutungslosen Gestalt (Kreisen, Winkeln, Linien) wie in den Tönen, nur schwächer und weniger mannigfaltig, gibt, ist, dünkt mich, unleugbar. Daher kommt es nun auch, daß trockene, steife, eckige Zeichnung, wenn sie nur von jenem Sinn für die Reinheit und Einfachheit der Gestalt durchdrungen ist, allemal ——— *) Joh. Joachim Winckelmann, geb. 1717, † 1768, Altertumsforscher. 243