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[   Band 5 Brief 50:    Humboldt an Caroline    Paris, 1. November 1815   ]


matisch ist. Er hat noch überdies die Gewohnheit, nicht nur sehr
viel, sondern auch meist sehr harte Sachen zu essen. Ich bin sehr
wohl und habe die alte Sitte wieder angefangen, nur mittags eine
Tasse Bouillon mit einem Ei zu nehmen. Ich tue es immer des
Morgens beim Kanzler, und er ist so sorgsam, daß, wenn er manch-
mal ausfährt, ehe ich komme, er mich fragt, ob ich auch meine
Bouillon ordentlich gekriegt habe.
Pauline Wiesel *), stell Dir vor, war hier und ist von hier
nach Frankfurt gegangen, wo sie einige Zeit bleiben will. Ich
ging nicht zu ihr, da ich sie wenig kannte. Aber die Mendelssohn
sagte mir, sie wäre bei mir gewesen. Also ging ich zwei Tage
vor ihrer Abreise auch hin. Ich fand sie nicht, aber sie schrieb
mir, daß sie den Abend zu mir kommen wolle. Das schien mir
etwas bedenklich, ich zog also vor, zu ihr zu gehen. Sie ist im
Gesicht sehr alt und häßlich geworden. Aber der Körper mag
noch recht hübsch sein. Im Wesen ist sie wie sonst. Sie spricht
noch ganz berlinisch, wirklich zur Verwunderung. Man hätte den
schönsten Dialekt nicht sorgfältiger in seiner Reinheit erhalten
können. Mir sagte sie sehr naiv, sie hätte mich schlechterdings
sprechen müssen, um mir zu danken, weil sie wüßte, daß Du und
ich immer bei ihrer Familie und sonst gut von ihr geredet hätten
»Das«, sagt sie, »gibt mir einen Druck in der Gesellschaft«. Sie
hat wirklich bei allem, freilich noch viel höher gestiegenen Philinen-
artigen Wesen, eine große Offenherzigkeit und Gutmütigkeit. Ihr
Hauptumgang hier war Gentz **). Sie ist mit Varnhagen nach
Frankfurt gereist.
Varnhagen ist Geschäftsträger in Karlsruhe geworden. Eigent-

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*) Geliebte des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, Freundin der
Rahel Varnhagen.
**) Friedrich von Gentz, Publizist und Staatsmann, geb. 1764, † 1832,
siehe Bd. III, S. 337.

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