< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 4 Brief 151:    Humboldt an Caroline    Dijon, 3. April 1814   ]


aber nie zu den mißmütigen Beurteilern gehöre, bin fest in mir
überzeugt, daß die verbündeten Mächte im Ganzen ihres politischen
und militärischen Ganges auf eine Weise, die erst die Folgezeit
recht würdigen wird, die rechte und einzig rechte Bahn gehalten
haben. Daß daneben nicht manche und große Fehler begangen
worden sind, bin ich weit entfernt zu leugnen. Allein es wäre in
der Tat mehr als kindisch, zu wollen, daß ungeheure Geschäfte, die
in fast beständiger Eil von mehreren gemeinschaftlich geführt werden
müssen, ohne solche sein sollten, und man ist immer, und meistenteils
sehr gut, wieder eingelenkt.
Hast Du das neueste Buch von Constant *) gelesen? »De l’esprit
de conquête et de l’usurpation dans leurs rapports avec la civilisation
Européenne«. Er hat es mir, aber ohne Brief, geschickt, und ich
bekam es in Chatillon. Es ist in vieler Hinsicht merkwürdig, allein
mit einer fast pedantischen Einförmigkeit geschrieben und mit weit
weniger glänzendem Verstand als kleinere unter seinen Schriften.
Ohngefähr alles, was historisch vorgegangen ist, leitet er durch
Räsonnement her, eine bei uns, gottlob, veraltete Methode.
Es ist ordentlich, als hätte ihn seit seiner Trennung von der Staël
ein gewisser Hauch des Geistes verlassen; nicht daß sie unmittelbar
ihm gegeben hätte, aber ihre Nähe elektrisierte ihn. Ich habe
überhaupt immer lachen müssen, wenn man, wie einige Frauen,
die Du nicht gekannt hast, in Paris, die Talma **) und andere, be-
haupteten, daß Constant, und in Deutschland, daß Schlegel geistig
bei der Staël verlören. Wer selbst Geist hat, kann nur unendlich

———
*) Constant de Rebecque, geb. 1767, † 1830, politischer Schriftsteller,
von 1799 bis 1802 Mitglied des Tribunats, als welches er sich Napoleons
Ungnade zuzog und Paris meiden mußte. Er reiste darauf mit Madame de
Staël und erschien 1814 im Gefolge des Kronprinzen von Schweden wieder
in Paris.
**) Charlotte Vanhove, Gattin des Schauspielers Talma, geb. 1771,
† 1860, eine der größten Schauspielerinnen ihrer Zeit.

                                                                       295