< zurück Inhalt vor >
[ Band 3 Brief 112: Humboldt an Caroline Königsberg, 12. September 1809 ]
dies oder jenes erst zu vollbringen oder abzuwarten. Jetzt bin ich sehr geneigt, daran zu glauben, und dann sterbe ich gewiß nicht eher, bis ich nicht den Albaner Berg und das Meer, und vor allem Palästrina wiedergesehen, nach dem ich eine ganz eigene Sehnsucht habe. Ich lese alle Morgen, gleich nach dem Aufstehen, immer etwas Lateinisches oder Griechisches, jetzt den Quintus Calaber, der, wie Du vielleicht nicht weißt, eine Fortsetzung des Homer geschrieben hat. Er lebte nach Christus in Kleinasien, und sein Gedicht ist freilich nur ein schwacher Nachhall von Homer, aber es hat immer einzelne recht große Schönheiten und wenigstens den alten, wo man ihn findet, tief in die Seele greifenden Ton. Mich fesseln jetzt manchmal die einfachsten Beiwörter, so neulich γαῖαν ἀμπελόεσσαν *). Du kannst Dir überhaupt nicht denken, welchen Eindruck so ein schlichtes Wort in einem Lande macht, wo einem nie eine Rebe und, wenn nicht einmal eine aus Berlin geschickt wird, nie eine Traube zu Gesicht kommt. Zum Versemachen bin ich hier eine Zeitlang sehr gestimmt gewesen. Ich habe neulich eine sehr wunderbare Komposition gemacht, eine Geschichte in elf zusammenhängenden Sonetten. Es entstand in mir, da mir das Goethische Asan Agas verstoßene Frau in die Hände fiel. Es ist vielleicht das Poetischste, was ich je gemacht habe, aber es ist etwas so Trübes und Dunkles darin, daß ich mich unmöglich ent- schließen kann, es Dir zu schicken, liebes Kind. Ich habe selbst nachher darüber lachen müssen. Aber es gehen einem manchmal Gespenster in der Seele auf, die man augenblicklich nicht los wird. Übrigens mußt du ja nicht denken, daß ich selbst trübe und melancholisch gestimmt wäre. Ich sehne mich unglaublich nach Dir, mein gutes, einzig teures Wesen, und kann es mir selbst ——— *) Rebengelände. 231