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[ Band 3 Brief 91: Humboldt an Caroline Königsberg, den 29. Junius 1809 ]
sehe ich Neapel gewiß. Das Leben ist lang, die Welt klein und die Postpferde rasch. In vier Wochen ist man von einem Ende Europas zum andern. Heute vor 18 Jahren, *) gute Li, dachten wir auch nicht so gewiß, so lange in Rom zu sein, und vieles wird die Zukunft noch tragen, was wir jetzt nicht ahnden. Die meisten Menschen leben nur so einförmig, weil sie keinen Sinn für ein anderes Leben haben, und es ihnen auch an Mut und Kühnheit fehlt. Bei uns ist keins von beiden der Fall. Ich habe mich heute von allem losgemacht und bin außer der Zeit des Mittagessens ganz zu Hause geblieben. Meine liebste Existenz ist diese. Meine Wohnung ist hübsch und freundlich; ruhig und still darin zu arbeiten und dabei in der Vergangenheit zu leben, ist mein süßester Genuß. Keinen Tag aber sehe ich so gerne wieder- kehren, als diesen; er ist mir wie unser gemeinschaftlicher Geburts- tag; er hat mein höchstes Glück gegründet, ich hatte vorher, wie ich recht gut weiß, manche Anlage, und trug manches in mir, aber Du erst hast mir die wahren Richtungen gegeben. Ich habe manchmal eine ordentlich unglückliche Unabhängigkeit im Denken, und habe mir oft gedacht, wie es geworden wäre, wenn ich Dich nicht geheiratet hätte. Das Beste wäre in mir untergegangen oder kaum entstanden; ich hätte mich sicherlich in ein sehr alltägliches Leben herabziehen lassen, hätte vielleicht und höchstwahrscheinlich nie einen andern Himmel gesehen, nie die Alten empfunden, wie jetzt, nie eigentlich das Innerste und Tiefste des Menschen erkannt. Es ist unbegreiflich und auch in Worten nie auszudrücken, was das innige und unaufhörliche Eindringen in ein Wesen, wie Du bist, erschließt. Alle Tiefen des Daseins liegen in einer großen, reichen Seele, und sie werden immer klarer und klarer dem, der das Glück hat, in einer solchen eigentlich heimisch zu werden. Ein recht mensch- ——— *) Der Hochzeitstag. 192