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[ Band 3 Brief 73: Humboldt an Caroline Königsberg, 16. und 17. Mai 1809 ]
die andern, als sei es nur eine Form, an der sich die Menschheit wie ein Künstler am formlosen Tone versucht, wo das Dasein untergehen kann, wenn der Gedanke nur Spur zurückläßt. Eine wahre und gänzliche Vereinigung gibt es dazwischen nicht, ebenso- wenig, als einer zugleich Schauspieler und Zuschauer sein kann. Wer ganz darin ist, schaut nur selten und unvollkommen über sein Glück hinaus, und wem es Bedürfnis ist, zu überschauen, taucht nur selten tief ein. Am schlimmsten ist’s, wenn die schmale Bahn verlassen wird, ohne eigentlichen Übergang jenes idealen, das aber ist bei weitem seltener geworden. Vielmehr neigt sich, und mit Recht, alles zu jener viel stärker als sonst hin. Ich fühle das sehr in meinen jetzigen Beschäftigungen. Eine viel glaubensvollere Religion, Volksbildung, pestalozzische Unterrichtsmethode, alles hat diese Tendenz. Ich begünstige hier vieles und setze meinen Namen unter manches, was vielen wunderbar vorkommen möchte. Doch glaube ich mich überall vollkommen rechtfertigen zu können. Eine Art Gleißnerei oder Leichtsinn oder Gleichgültigkeit wäre mir hierin, wie immer im Homer steht, ὅμως Ἀίδαο πύλησιν verhaßt. *) Doch bin ich gewiß nicht anders als sonst. Aber ich leugne nicht, daß, wo andere vor und neben mir sehr zuversichtlich und aus Zuversicht vielleicht beinah gedankenlos handelten, in mir selbst manchmal erst mancher Kampf zu schlichten und auf sein eigentliches Prinzip zurückzuführen ist. Oft wäre es mir ein großes Bedürfnis, mit jemand darüber zu reden. Aber ich könnte es, da es tief in meine eigenen Gesinnungen und Überzeugungen eingreift, mit niemand als mit Dir. Auch darin vermisse ich Dich sehr, und wenn ich so oft erlebt habe, daß das Zusammensein bei anderen das Reden über Gegenstände der Überzeugung und des Nachdenkens seltener macht, ——— *) »Verhaßt wie die Tore des Hades ist mir derjenige, der anders im Herzen gesinnt ist, als er es ausspricht.« 159